THREE CHEARS TO THE ICE AGE
: Glitzern und leuchten

DIRK KNIPPHALS

Schöne Herbstwochenenden muss man ausnutzen. Was tun? Ein Ausflug! Aber so viel Zeit ist auch nicht. Also ein kleiner Ausflug. Also an den Schlachtensee. Der schmale, gewundene See ist von Schöneberg aus, wo ich wohne, das unaufwendigste Naherholungziel (wenn an der S 1, so wie jetzt, nicht gerade gebaut wird).

Und schön ist er auch. Wenn es einem gelingt, sozusagen die Augen zusammenzukneifen und das Normale so eines Sonntagsspaziergangs auszublenden und dafür den See wie zum ersten Mal zu sehen, sogar wunderbar. Ein Mischwald, der direkt ans Wasser reicht, auf dem sich milde trabende Wolken spiegeln, die auf einem hellblauen Himmel entlangziehen. Zwischen den Bäumen immer wieder neue Blicke auf den See. Mal sieht er ganz schmal aus. Ist er ja auch. Aber wenn man ihn in einer Längsperspektive hat, öffnet sich der Blick zur Weite hin. Der weite Blick, aus irgendeinem Grund beruhigt das die Seele, wenn man zu lange immer nur auf die Häuser gegenüber und Hinterhöfe geguckt hat. Dazu sanft geschwungene Uferlinien und immer wieder neue kleine Buchten. Und die herbstlichen Farben, wenn Grün auf Gelb auf Rot trifft, sehen großartig aus. „Three Chears to the Ice Age“, pflegt Herr R. auszurufen, wenn man mit ihm durch die märkische Endmoränenlandschaft fährt. Diese Verbindung aus Hügeln, Wäldern und Seen ist ja auch wirklich etwas Besonderes. Und am Schlachtensee hat man das mit BVG-Anschluss.

Neben der Seebeobachtung steht bei so einem Wochenendspaziergang um den See (immer linksrum, entgegen dem Uhrzeigersinn) automatisch auch Menschenbeobachtung an. Jogger. Junge Eltern. Golden Ager. So ein Ausflug ist natürlich Teil des ganz normalen Pärchen- und Familienkults.

In den Zwei-, Dreisekundenblicken auf entgegenkommende Paare kann man manchmal ganze Lebensgeschichten aufleuchten sehen. Welches Paar sich noch in der Entscheidungsphase befindet. Welches gerade händchenhaltend dem Glück entgegenhüpft. Welches einen guten Alltag lebt. Welches sich grad mal nichts mehr zu sagen hat.

Sehr rührend oft, wenn einem Vater und Sohn oder Mutter und Tochter im trauten Zwiegespräch entgegenkommen. Unwillkürlich muss man lächeln, wenn der Sohn dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten aussieht oder man an der Mutter sehen kann, wie die Tochter in 30 Jahren einmal aussehen wird. So geht der Spaziergang dahin. Und zwischendurch immer wieder startende Enten auf dem See oder eine sanft schimpfende Mutter, weil das Kind in den Matsch gelaufen ist, oder ein letzter wagemutiger Schwimmer oder ein kleines ferngesteuertes Elektroboot. Der Schlachtensee ist einer dieser Orte, wo Berlin ein bisschen heile Welt spielt.

Zur Belohnung setzt man sich dann in den großen Biergarten und bestellt Kuchen und Weizenbier. Eigentlich geht diese Kombination ja gar nicht, aber, hey, dies ist Berlin, was soll die Etikette? Hauptsache, du hast Lust darauf. Mit ein bisschen Glück erwischt man einen Tisch, an dem einem quer über den See die späte Nachmittagssonne ins Gesicht scheint. Unwillkürlich lehnt man sich zurück und schließt die Augen. Dann macht man die Augen wieder auf und der See glitzert und leuchtet ein bisschen und gewährt einem einen Augenblick des tiefen Zuhauseseins.

Der Maler Walter Leistikow hat den See vor über hundert Jahren schon so gemalt: „Abendstimmung am Schlachtensee“, 1895, im Bröhan-Museum ist es zu sehen. Ziemlich genau von der Mitte des Ölgemäldes aus schickt die Sonne letzte Strahlen. Bald wird sie untergegangen sein, aber noch ist sie es nicht. Man kann das Ende des Sees nicht sehen, er windet sich noch einmal um die Ecke. Und dann blinzelt man ein bisschen und fragt sich kurz, ob man nicht doch hier wohnen wollte.

Aber das dann doch nicht. Und man trinkt aus, steht auf und fährt zurück in die Stadt und in seine Gegenwart.