berliner szenen: Nicht alt und nicht geklaut
Nach vier Tagen kennen mich an meinem neuen Lieblingsspätkauf alle. Heute ruft der Besitzer schon von Weitem: „Ach, die Autorin!“ und warnt die anderen Gäste, zu viel zu erzählen: „Die schreibt am Ende alles auf!“ Der selbsterklärte Berufstrinker, der vor dem Spätkauf zu campieren scheint, lässt sich nicht abschrecken. Er setzt sich neben mich, liest mit, was ich schreibe, meckert über hölzerne Sprache („Lass mich mal an die Tastatur, Chériechen!“) und bittet immer wieder um Zigaretten, Bier oder Nüsse. Dabei legt er einen erlesenen Geschmack an den Tag. Als ich ihm Erdnüsse kaufe, echauffiert er sich: „Ich hatte dich explizit gebeten, die mit dem Pfeffer zu holen. Erdnüsse kann ich in den Restaurants hier selbst abräumen.“
Einer der Kellner der benachbarten Paris Bar hört mit und ruft: „Wehe, du räumst bei uns noch mal was ab! Ich hab dich im Blick!“ Der Berufstrinker sieht etwas bedröppelt auf den Boden. Vom Nebentisch ruft jemand: „Erinnert ihr euch noch an die glorreiche Gurkengeschichte?“ Alle lachen. Ich blicke von meinem Laptop auf: „Was für eine Gurkengeschichte?“ Der Mann sagt: „Er hat letzte Woche ein paar Gläser alte Gurken geklaut und versucht, sie hier zu verkaufen.“ Der Berufstrinker protestiert: „Die waren nicht alt. Und auch nicht geklaut! Echte Biogurken ausm Garten waren das!“
Der Kioskbesitzer meint lächelnd: „Du siehst, ich habe hier echte Patienten.“ Dann steht er auf, bringt dem Berufstrinker ein Sterni und sagt: „Das geht aufs Haus. Weil du mich täglich zum Lachen bringst.“ Der zieht sein Sakko zurecht, öffnet die Flasche so feierlich, als handle es sich um einen besonders edlen Tropfen, und klopft dem Kioskbesitzer auf die Schulter. Ein Obdachloser neben ihm nickt: „Der ist der Beste! Nicht nur gerade gebaut, sondern auch ein Herz wie ein Brett.“ Eva-Lena Lörzer
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