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Im Untergrund mit der Grinsekatze

Reise durch die Tiefen des Bewusstseins: Das Deutsche Theater in Göttingen lädt zum verwirrenden Theater-Rundgang durch Alices Wunderland – in einer Tiefgarage

Von Jens Fischer

Wer der Melodie des Mundharmonikaspielers folgt, wird in einen dunklen Schlund gelockt. Der führt neben dem Deutschen Theater in Göttingen hinab in neongrelle Nacht – in eine von Videokameras beäugte Tiefgarage. Im vergangenen Jahr hat Antje Thoms dort George Orwells Dystopie des „1984“-Überwachungsstaats eingerichtet, jetzt ist der Ort Lewis Carrolls „under ground“. Dorthin entführte der Liebhaber großer Märchen und kleiner Mädchen die junge Alice Pleasance Liddell, indem er ihr so absurde wie weltweise Geschichten erzählte. Seine untergründig-dunklen Fantasien taufte er später um und verzauberte sie in ein farb­rauschend liebreizendes „Wonderland“: das Unterbewusste; der Traum.

Und so wie Carrolls Protagonistin von einem weißen Kaninchen durch ein Erd-, sprich Realitätsloch in den labyrinthischen Bau des Mümmelmanns abtaucht, sind es in Göttingen die Zuschauer, die von einem Dutzend weiß gewandeter, behandschuhter und perückter Kaninchendarsteller durch silbrige Weihnachtsbaumlamellen unters Theater geleitet werden. Sie sollen das Beunruhigende und Beängstigende oder auch das Befreiende „In Alice Welt“ erleben, in der Gesetzmäßigkeiten unserer Allerweltswelt kaum mehr Gültigkeit haben.

Damit trotzdem niemand hilflos herumtaumelt, werden „acht bis neun Verhaltensregeln“ verkündet wie: „Sprich artig und hör auf, an deinen Kleidern herumzufingern“. Beim Nachzählen ergibt sich: Nicht acht, nicht neun, zwölf solcher Gebote haben die Kaninchen verteilt. Sicher scheint hier also nichts, relativ alles. Der Verwirrungstaktik erster Streich. Der zweite folgt sogleich. „Du bist Alice, da bin ich mir 100-prozentig sicher, nein, du könntest es sein, bist es bestimmt nicht“ – wird jedem der maximal 80 Besucher verdeutlicht: Sie sollen mit ihrem Namen auch probehalber mal ihre Identität wechseln. Ganz im Sinne der Erosion eines kohärenten Selbst, die Carroll in seinen „Alice“-Büchern ja beschreibt. So bekommt jeder Besucher den Aufkleber „Ich bin Alice“ auf die Brust geklebt.

In der nun zu durchwandernden Rauminstallation gewinnt noch eine weitere Figur vielfältig an Gestalt. In 16 pittoresk ausgestatteten Behausungen, die Florian Barth zwischen betongrauen Decken, metallisch grauen Lüftungsschächten und pflastergrauem Boden gebaut hat, sitzt ein anderer Hutmacher. Mal ein Kind, mal ein Duo, mal junger Mann oder alte Frau. Alle haben dunkel unterlaufene Müdigkeitsaugen, meist schmierig zurückgekämmte Haare, tragen Secondhand-Grabbeltisch-Mode und sind auf stets eigene Art kauzig verrückt: in Wort und Tat mit Nonsens beschäftigt.

Da jeder Hutmacher aber nur drei bis sechs Besucher gleichzeitig bespielen kann, wandern diese in Kleinstgruppen von Station zu Station. Ich werde zuerst in einer Gefängniszelle platziert, die auch das Vierbettzimmer in einer Jugendherberge mit Renovierungsstau sein könnte. An grob verputzten Holzwänden kleben Glasperlen wider die Anmutung von Trostlosigkeit. Auch Requisiten sind eingelagert, die als verbindendes Element in allen Zimmern zu suchen und zu finden sind – wie Schachbrett, Hut, Spiegel, weißer Kuschelhase, „Alice“-Buch, Teeservice und ein Fläschchen mit der Aufschrift „Trink mich“.

Jeder Hutmacher fabriziert mit den Utensilien Geräusche, manchmal drückt er auch auf eine Keyboardtaste oder dreht an einer Spieluhr. Jedes Klangereignis wird abgehört. Ein Komponist collagiert aus dem Input einen Soundtrack zum Thema „unheimliche Atmosphäre“, dazu eingesprochen werden satirische bis dadaistische Wortspielereien aus dem Carroll’schen Werk.

Dem verloren hallenden Wort-Klang-Mix können die Besucher per Kopfhörer lauschen. Das ist reizvoller als dem ersten Hutmacher meiner Tour zuzuschauen, der nur ab und an mal Schaumstoffbälle in einen Indoor-Basketballkorb wirft. Das ist langweilig, soll langweilig sein. Eine Herausforderung als Verwirrungskniff Nummer drei. Denn jede Besucher-Alice muss mit sich selbst abmachen, ob sie passive und/oder teilnehmende Beobachterin sein will.

Im konkreten Fall rafft sich das Publikum auf, die Bälle des Hutmachers vom Boden aufzusammeln. Versucht sich also nach den Regeln der Sozialkompetenz nützlich zu machen und partiell mal wieder Ordnung zu schaffen. Aufzuräumen. Wehrt sich so gegen die allgegenwärtige Dramaturgie der Desorientierung. Denn alles, was geschieht oder nicht geschieht, dient dem Zweck, herkömmliche Kategorien mit surrealem Witz ad absurdum zu führen – und somit hinterfragbar zu machen.

Alles, was geschieht oder nicht geschieht, dient dem Zweck, herkömmliche Kategorien mit surrealem Witz ad absurdum zu führen

Kausalität, Kontinuität und Konstanz sind schon mal aufgegeben, da die Inszenierung keine Handlung entwickelt und das kompositorische Kriterium von Spannung–Entspannung verweigert, stattdessen als Abfolge gleichberechtigter Ereignisse angelegt ist. Zeit verliert an Bedeutung. Und Sprache wird durch Carrolls Jonglage mit Silben, Buchstaben, Worten als System der Kommunikation außer Kraft gesetzt.

Im nächsten Ereignisraum, zugestellt mit Omas dunklem Wohnzimmermobiliar, ist der Hutmacher blind, jung und weiblich, nippt an der Teetasse und räsoniert über die Frage, was der Unterschied zwischen einem Raben und einem Schreibtisch sei. Besucher könnten mit einigen Blicken in die ausliegenden Brockhausbände recherchierend helfen, aber schon geht es weiter zu einem fett auf einem Bett drapierten Hutmacher. Immer schneller – keine Zeit, keine Zeit – müssen die Besucher die Spielorte wechseln. Irgendwie rast der vorgeführte Unsinn nur noch vorüber. Keine Erwartung mehr, irgendetwas zu verstehen.

Die Mini-Performances funktionieren daher als Einübung, sich der Traumlogik hinzugeben. Wie Alice hinter den Spiegeln. Nach nur einer Stunde aber ist Schluss mit lustig. Obwohl nicht einmal ein Drittel aller Stationen in Augenschein genommen wurden, womit das Theater zum Zweitbesuch animiert. Final werden alle Besucher aber erst mal in einen Saal voller Feldbetten geführt. „Schlaf ein oder wach auf“, singt das 24-köpfige Ensemble.

Da Carrolls Alice „die Normalität fade und dumm“ erscheint angesichts der außergewöhnlichen Parallelwelt, soll sich jetzt auch jeder Besucher zu dieser oder jener Realität bekennen. Als Entscheidungshilfe liegt ein aus Dealerkreisen bekanntes Plastiktütchen auf dem Feldbett, darin ein süßes Argument für Carrolls Trip: ein weißes Marshmallow-Kaninchen. Das zergeht auf der Zunge wie dieser Abend im Geiste: ein prima Lustmacher auf die neue Theaterspielzeit.

So, 2. 9., 18.30/20.30 Uhr, Deutsches Theater Göttingen/TiefgarageWeitere Aufführungen: 5./6./7. und 9. 9.

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