Zu viele Mythen

KIWIANA Neuseeland, dieses Jahr Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse, ist immer eine Reise wert. Auch wegen der Literatur. Wenn nur die Neuseeländer selbst endlich an ihre Autoren glauben würden!

VON ANKE RICHTER

Es ist ein Rekordjahr für Aotearoa, und damit ist nicht der Sieg bei der Rugby-Weltmeisterschaft gemeint. Das „Land der langen weißen Wolke“ war viel zu lange ein weißer Fleck auf der literarischen Weltkarte. 76 Buchtitel aus Neuseeland werden dieses Jahr im Rahmen des Ehrengast-Programms für unseren Buchmarkt übersetzt – einmalig in der kurzen Kulturgeschichte des kleinen Landes. Deutsche Leser werden sich dafür genauso begeistern wie zuvor für Islands Sagen und Romane. Kiwis dagegen lassen ihre eigenen Geschichten erstaunlich kalt: Nur klägliche 4 Prozent der in Neuseeland verkauften Belletristik stammen von dort, und das bei einem Land voller gefeierter und eloquenter Autoren. Ein Phänomen, das gerade erforscht und heftig diskutiert wird.

Es ist paradox. Kaum ein Gemälde zwischen Invercargill und Kataia kommt ohne die einheimische Nikau-Palme aus, T-Shirts und Tassen sind mit Tui-Vögeln dekoriert. Neuseeländer betreiben einen Kult um ihre Retro-Symbole und nennen das „Kiwiana“. Sie lieben ihre einheimische Kunst, ihre Modemacher und ihre Musik. Tiki Taane oder Bic Runga sind Stars, die man im Rest der Welt kaum kennt. Man betrachtet sich gern selbst: Der Film „Boy“, eine schräge Maori-Geschichte von Taika Waititi, spielte 9 Millionen Dollar ein, und jeden Abend sitzt eine halbe Million Zuschauer vor „Shortland Street“, der antipodischen „Lindenstraße“. Wenn Peter Jackson demnächst auch noch den „Hobbit“ in seiner alten Heimat verfilmt, kann er dieser keinen größeren Gefallen tun, denn Kiwis feiern sich und ihr äußerst nett anzusehendes Land auf ansteckende Weise ab.

Nur um die Bücher, in denen sie vorkommen, machen sie einen großen Bogen – solange es sich nicht um Sachthemen handelt. Kochen, Sport, Historisches oder Biografisches läuft bestens. Literarisches dagegen nur, wenn es aus dem englischsprachigen Ausland kommt. Einheimische Autoren, auch wenn sie auf gut besuchten Literaturfestivals herumgereicht werden, verkaufen im Schnitt nur 300 Stück eines Werkes – selbst für ein 4-Millionen-Volk eine bescheidene Zahl. Im nicht viel größeren Norwegen dagegen kann ein Jo Nesbo bei seinen Landsleuten auf Krimiauflagen von zwei Millionen hoffen.

„Es ist seltsam“, räumt Harriet Allan, Lektorin bei Random House in Auckland, ein. „Unsere Autoren sind talentiert und hochproduktiv. Das muss sich nur noch herumsprechen.“ Lediglich vier Kiwi-Romane wurden Bestseller, was auch mit ihrer Verfilmung zusammenhing; zum Beispiel „Once were Warriors“ von Alan Duff und „Whale Rider“ von Witi Ihimaera. Der Rest hat kaum eine Chance auf kommerziellen Erfolg, selbst wenn es gute Kritiken und Preise regnet. Denn es ist nicht so, als ob in den Medien nicht über Bücher berichtet würde. Im Gegenteil. Radio New Zealand hat täglich eine Lesung im Programm, alle namhaften Autoren tauchen in Interviews auf, das Nachrichtenmagazin „Listener“ widmet sich ausführlich den Neuerscheinungen. Selten wird etwas Hausgemachtes verrissen. Und genau da liegt vielleicht das Problem: Der in der freundlichen Mentalität der Kiwis begründete Hang zum Positivismus und die Scheu vor harscher Kritik sitzen tief. Erst recht in einem kleinen Klüngel wie Wellingtons literarischer Elite rund um das International Institute of Modern Letters an der Victoria University. Wer aus der Kaderschmiede des Poetenpapstes Bill Manhires stammt, wird gern bei der Victoria University Press verlegt. Ehefrau des Verlegers ist die angesehene Schriftstellerin Elizabeth Knox.

Man schmort im eigenen Saft. Was beim Publikum dazu führt, dass es den Hype um die angeblichen Stars nicht mitmacht, wenn’s zur Kasse geht. Abgesehen davon sind neuseeländische Bücher, die nur in kleinen Auflagen erscheinen, im Verhältnis zum Pro-Kopf-Einkommen teuer. Man leiht sie lieber.

Viele book shops in Neuseeland sind Ketten wie Whitcoulls oder PaperPlus, wo im gleichen Maße Schreibwaren und Geschenkartikel verkauft werden. Kaum jemand kennt sich dort mit Literatur aus, auf den Tischen liegt nur die gängige internationale Massenware. Während ein Lee Child oder Stieg Larsson in der Abteilung „Fiction“ zu finden sind, verstauben ihre antipodischen KollegInnen in der Stiefecke „New Zealand Fiction“ – ein Marketingfehler.

Debra Millar, Cheflektorin von Penguin Books in Auckland, hat noch andere Schuldige ausgemacht: die Schulen. „Wir müssen umdenken, wie unsere Literatur im Unterricht vermittelt wird“, sagt sie. Wer namhafte neuseeländische Autoren wie Janet Frame („Ein Engel an meiner Tafel“) und Patricia Grace wie Klassiker pauken muss, bestellt sie sich später nicht aus Neugier bei Amazon.

Dazu kommt der noch immer vorhandene cultural cringe – eine Art gemeinschaftliche Scham für den eigenen Stallgeruch. Über Generationen haben die Neuseeländer von Mutter England und dem stärkeren Nachbarn Australien vermittelt bekommen, dass sie rückständig und unbedeutend seien. Begehrt war im Lande daher alles von overseas – selbst wenn Selbstproduziertes, zum Beispiel beim Essen, jeden Import ausstach. Das hat sich längst ins Gegenteil verkehrt. „Made in New Zealand“ ist zum Qualitätsmerkmal geworden, nicht zuletzt, weil auch der Rest der Welt die Pazifik-Nation spätestens seit der „Herr der Ringe“-Verfilmung mit wachsender Begeisterung wahrnimmt. Aber der Minderwertigkeitskomplex greift noch immer beim Lesen: Was wir drucken, kann einfach nicht so gut sein wie Vergleichbares aus Europa oder den USA.

Eine aktuelle Studie der Victoria University ist diesem Problem auf den Grund gegangen. Die Einschätzung der meisten Befragten: Was im Lande verlegt wird, sei „zu hochgestochen, zu sehr auf Neuseeland bezogen, nicht abwechslungsreich genug“. Drei Viertel gaben jedoch an, das von ihnen verpönte Genre nie zu lesen. Ist die Ablehnung also nur ein reines Vorurteil?

Der typische Neuseeland-Roman sei langweilig und deprimierend, so die Internet-Kommentare zur Studie. Zu beengt, zu vertraut, zu bemüht. Er drehe sich oft um traumatische Erlebnisse wie Ertrinkungstod oder Inzest, spiele irgendwo auf dem Lande und sei mehr darauf bedacht, die durch Creative-writing-Stipendien finanzierte Sprachkunst des Verfassers zu demonstrieren, als eine packende Geschichte zu erzählen. „Drama um des Dramas willen“ nennt es die Literaturkritikerin Jolisa Gracewood. „Ich bewundere die Kreativität unserer Schriftsteller, aber manchmal ist es zu viel Sensation, zu wenig Gefühl.“

Da einheimische Flora und Fauna vorkommen und man die Schauplätze kennt, fehlt außerdem der Eskapismus: Eine Story aus der Bronx oder Stockholm fasziniert mehr als aus dem Getto Süd-Auckland. Das so weit vom Rest der Welt entfernte und daher für Touristen spannende Inselreich will man als Einheimischer beim Lesen ganz gern mal verlassen.

Schuld an dem Dilemma sind auch Verlage, die ihren Fokus zu lange lokal auf Maori-Mythen oder Pionierzeiten beschränkt haben. „Wenn man ellenlang beschreibt, wie der Regenwald riecht und ein Tui klingt, hat man überhaupt eine Chance, angenommen zu werden“, beklagt sich ein frustrierter Autor online. „Harry Potter wäre in Neuseeland doch nur erschienen, wenn er statt auf einem Besenstiel auf einem Farnwedel reitet.“

Es ist vertrackt: Verlegt und vom Staat gefördert wird von jeher vor allem, wer Vertrautes verewigt. Aber genau der angeblich „typisch neuseeländische Blick“ hindert den kommerziellen Erfolg.

Die neue Garde der Schreibstars hat sich davon befreit. Lloyd Jones, dessen bewegender „Mr. Pip“ auf die Shortlist des Man Booker Preises gelangte, den Commonwealth-Preis gewann und verfilmt wurde, siedelte sein Buch im melanesischen Bürgerkrieg an. Die zu Recht gefeierte Emily Perkins schwamm sich mit ihrem Roman „Novel about my Wife“ frei. Er spielt in London.

Fast so viele Bücher wie beide zusammen verkauft Paul Cleave – aber nur im Ausland. Die klugen Krimis des Autors aus Christchurch sind vor allem in Deutschland ein Renner und erobern gerade Frankreich. Die Millionengrenze rückt näher, Filmrechte sind vergeben. Warum ist er daheim aber noch so geheim? „Ich bin einfach nicht gut genug“, amüsiert sich Cleave. „Gut genug für 18 andere Länder, gut genug, um Hunderttausende von Büchern zu verkaufen, aber nicht gut genug, um in Neuseeland ernst genommen zu werden.“

Anke Richter lebt in Lyttelton, Neuseeland, und ist Autorin der Realsatire „Was scheren mich die Schafe – Unter Neuseeländern. Eine Verwandlung“ (Kiepenheuer & Witsch). Am 8. Oktober liest sie daraus um 19 Uhr im taz-Café. Ihr erstes neuseeländisches Buch war das „Edmonds Cookbook“.