piwik no script img

Uli Hannemann Liebling der MassenDer Herbst bringt Verderben, der Frühling bringt Sterben

Die Wespen auf dem Land sind klein, agil und nicht so leicht zu erwischen. Aber sie stehen ohnehin unter Naturschutz. Man darf sie nicht ärgern und verkloppen schon gar nicht. Theoretisch sind sogar die trägen Stadtwespen geschützt, die zu Hause in Berlin ohne Hast über mein Brötchen schlurfen, als wäre es ihres. Da sitze ich ja schon wieder an der Arbeit. Meine Texte sind wie Rohdiamanten, die ich mit unendlicher Akribie so lange schleife, bis aus einem tausendseitigen Steinbruch aus Buchstaben ein fröhlicher, schlanker Zweizeiler wie dieser wird:

Der Herbst bringt Verderben, der Winter bringt Not;

der Frühling bringt Sterben, der Sommer den Tod.

Das kostet äußerste Konzentration. Daher wird jeder verstehen, dass ich den Artenschutz unter diesen Umständen flexibel handhabe. Wie das genau aussieht, bleibt mein Geheimnis. Ich verrate nur so viel: Eine zentrale Rolle spielt eine zusammengerollte Zeitung, und das dünne Geschrei der Wespen dringt durch die dicken Mauern des Altbaus nicht nach draußen. What happens in Neukölln stays in Neukölln.

Nun möchte man denken, jene eleganten Bio-Erdwespen draußen vor unserer Landhütte wären nicht solche Kulturfolger wie diese fetten Naziwespen aus der Stadt in ihren Borussia-Dortmund-Traditionstrikots und interessierten sich deshalb auch nicht für unser Gartenfrühstück. Doch diese hier bekundet nicht bloß Interesse, sondern greift nun leider auch noch frech nach unserem Schinken.

Vorher hat sie immer nur Tau getrunken und Kräuter gesammelt. Wir haben ihre reine Landwespenseele mit dem eingeschleppten Zivilisationsdreck korrumpiert, der sie krank machen wird und böse wie die Wespen und auch die Menschen in der Stadt. Wir sind verdammte Conquistadoren. Die Landwespe hat uns nicht gerufen, wir sind zu ihr hier rausgezogen.

Dennoch müssen wir den Frühstücksaufschnitt schützen. Außerdem nervt das Vieh. Erst möchte ich der Ökowespe schlicht aufs Maul hauen, doch sie ist zu fix. Also versuche ich, sie mit einer Wursthaut zu dressieren. Setzt sie sich auf die Wurst, wedle ich mit der Hand nach ihr, setzt sie sich auf die Pelle, lasse ich sie in Frieden.

Aber die schnallt gar nichts. Wespen raffen null. Man kann noch nicht mal sagen, dass sie komplett bescheuert sind, denn selbst um bescheuert zu sein, müsste wenigstens irgendeine Grundlage existieren, von der aus Bescheuertheit überhaupt erst möglich wird. Uns Kindern wurde früher stets eingetrichtert: „Schlag nicht nach den Wespen, die werden sonst wild und stechen erst recht.“ Das ist kompletter Quatsch. Wie haben sich die Eltern das vorgestellt? Dass die Wespen einen ausgefeilten Racheplan erarbeiten oder dass sie schlicht austicken? „Der da hinten im roten Pullover wollte mich doch grad hauen, oder? Da werd ich aber mal so richtig meine Fäustchen schwingen und wenn das nichts hilft, vielleicht auch meinen Stachel aus dem Keller holen.“

Alles klar. Daran sieht man wieder, dass die Alten mit Brehms Tierleben groß geworden sind: dem tapferen Löwen, dem listigen Fuchs und dem albernen Affen. Dazu mit einer Wespe, die sich in Sütterlin notiert, wer sie an ihrer freien Persönlichkeitsentfaltung gehindert hat. Wespen haben aber kein Gehirn. Sie können sich nichts merken. Wer nach ihnen haut, ist ihnen scheißegal, sie reagieren nur auf den Luftzug. Ein roter Pullover und ein blaues Auto sind für sie ein und dasselbe: zugleich alles und nichts und auch noch irgendwas dazwischen. In dem Hohlraum zwischen den Fühlern herrscht völlige Leere. Sie summen nur in einem fort dieselbe Melodie vor sich hin; es ist das Lied vom Tod, auf einem Kinder-Xylofon gespielt: Bim, bim, bim. Bim bim bim.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen