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Uli Hannemann Liebling der MassenDer kluge Weberknecht – oder Aufklärung dank Käfer

Oft sauge ich ja nicht. In den Ecken der hohen Zimmerdecke hat sich so einiges angesammelt, von Spinnweben bis hin zu diversen Vertretern von Flora und Fauna. Mit dem Saugrohr ohne Aufsatz sind die Spinnweben schnell beseitigt. Nun verfolge ich mit spielerischem Ehrgeiz einen Weberknecht.

Das Tierchen ist nach konventionellen Kriterien eher hässlich, doch dafür ist es vermutlich sehr klug. Ohne spürbare Hast oder Empörung schreitet es lässig beiseite. Nicht zu langsam, um nicht vom Sog erfasst zu werden, aber auch nicht zu schnell. Unser kleiner Freund zeigt das Gebaren eines Fußgängers, der vor einem Auto, das zu schnell durch den verkehrsberuhigten Bereich fährt, demonstrativ langsam die Straße überquert. So bewahrt er seine Würde. Nur Feiglinge rennen, will er damit ausdrücken, Diebe und Leute, die im Unrecht sind oder sich im Unrecht wähnen. Wäre ich nur ein kleines Stück näher, könnte ich in seinen Augen jene nonchalante Melancholie ausmachen, die seinem winzigen Insektengesicht Größe, Anmut und damit letztlich doch fast wieder so etwas wie Schönheit verleiht.

Einen direkten Vorwurf kann ich darin nicht erkennen. Es wirkt eher wie ein tiefes Bedauern darüber, dass Wesen mit einem derart primitiven Koordinatensystem aus Moral, Vernunft und Intelligenz existieren müssen. Ich tue ihm leid.

Klar, ich schade ihm auch, indem ich versuche, ihn einzusaugen. Doch es geht ihm hier um ein höheres Prinzip des Miteinanders. Ginge es nur um ihn selbst, würde er halt wegrennen und sich verstecken oder zum Gegenangriff übergehen und mir die Augen aushacken – nichts leichter als das. Aber er möchte, dass ich Verantwortung übernehme für mein Tun. Ich soll lernen, in Zukunft so zu handeln, dass mein Handeln jederzeit auch als Prämisse allgemeinen Handelns gelten könnte. Frei nach Kant, der, was heute gerne unter den Tisch gekehrt wird, sich seine Kernthesen im Wesentlichen aus der Welt der Käfer abgeschaut hat.

Ich stochere erneut mit dem Saugrohr nach ihm und wieder spaziert er mit einem leisen Lächeln nur einen Schritt beiseite. Er gibt mich und meine Seele nicht auf. Mit Schafsgeduld versucht er mich weiter zu eigenverantwortlichem Tun und Denken hinzulenken. Dazu gehört auch, dass ich mir endlich mal die richtigen Fragen stelle: Wie er, der Weberknecht, denn da wieder rauskommen solle; vielleicht Klopfzeichen geben wie ein Verschütteter? Ob und warum ich das denn bitte nicht bedächte, und vor allem, was er denn da drin überhaupt solle?

Das nächste Mal komme ich von hinten und er macht erstmals einen kleinen Hüpfer. Er geht – das hätte man schon fast vergessen – schließlich auch ein nicht unerhebliches Risiko ein, nur um mir zur Erkenntnis zu verhelfen: Für mich is dit keen Spiel, Meesta! Denn wie würde ich mich wohl an seiner Stelle fühlen, schuldlos in einem dunklen Staubsaugerbeutel eingesperrt, fünf Beine durch den groben Einsaugvorgang verstaucht, überall blaue Flecken, inmitten einer stinkenden Masse aus verdichteten Staubflusen, Centmünzen, Zufaulzumbücken, Kronkorken, Schorfstückchen, welken Blättern, Popeln, Chipskrümeln und Zehennägeln?

Mit der Zeit fruchten seine Botschaften und ich lasse von ihm ab: Ein Lebewesen ist keine Unordnung und kein Dreck. Hier in diesem Haus ist genug Platz für uns beide. Ich bin nicht mehr wert als er. Ein Staubsauger ist ein Haushaltsgerät und kein Hinrichtungsinstrument. Umgekehrt ist ein elektrischer Stuhl ja auch kein Möbelstück. Ich habe mich durch seine Hilfe geändert, bin reifer geworden. Außerdem wird mir mit der Zeit der Arm lahm.

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