Bruckner, mal um die Hälfte gekürzt

FESTIVAL Was unterscheidet Komponisten von Performern? Warum hat Pop mehr Freiheiten als klassische Musik? Existiert Werktreue? „Faithful! Treue und Verrat der musikalischen Interpretation“ sucht nach Antworten

Das Festival rehabilitiert die dem musikalischen Werk gegenüber abgewertete Kategorie der Interpretation

VON TIM CASPAR BOEHME

„Glenn Gould spielt Bachs Goldberg-Variationen“, „Die Beach Boys spielen ‚Good Vibrations‘“: Obwohl die beiden Sätze scheinbar ganz ähnliche Vorgänge zum Ausdruck bringen, bedeuten sie doch etwas sehr Unterschiedliches.

Im ersten Fall wird eine Hierarchie zwischen einem Komponisten (Bach) und einem Interpreten (Gould) beschrieben, wobei unterstellt ist, dass der Interpret ein Werk – Bachs Goldberg-Variationen – notengetreu wiedergibt. Bei den Beach Boys sind die Zuständigkeiten nicht so klar verteilt. Der Song stammt aus der Feder von Beach-Boys-Mastermind Brian Wilson, die Band spielt im Grunde „sich selbst“. Und während man Gould im Zweifel vorwerfen könnte, er habe Bach nicht „richtig“ interpretiert, ergibt ein solcher Vorwurf bei den Beach Boys eigentlich keinen Sinn, sie können ihren Song bloß unterschiedlich spielen, mal mehr und mal weniger stark an ihrer Studioversion als einziger Referenzgröße orientiert.

Kollision der Positionen

Seit Freitag kann man beim Festival „Faithful! Treue und Verrat der musikalischen Interpretation“ sich mit Fragen wie diesen auseinandersetzen. Die Organisatoren Björn Gottstein und Elke Moltrecht haben ein umfangreiches Programm aus Konzerten, Diskussionen und Gesprächen zusammengestellt, in dem sie den Interpretationsbegriff selbst befragen und die Kategorie der Interpretation, die im 20. Jahrhundert gegenüber dem Werk stark abgewertet worden sei, als solche wieder rehabilitieren wollen. Wie unterschiedlich die Voraussetzungen für das Sprechen über musikalische Interpretation sind, konnte man am Eröffnungsabend bei einer Podiumsrunde im Berghain erfahren, in der die Position des Dirigenten und Festivalschirmherrn Lothar Zagrosek mit der des Poptheoretikers Diedrich Diederichsen kollidierte.

Zagrosek, der sich stark für die Neue Musik engagiert, sprach ganz aus der Perspektive des um Authentizität bemühten Interpreten, der sich im Dienst für das Werk freiwillig den Intentionen des Komponisten unterwirft. Gerade in der Moderne, so seine Erfahrung, seien für die Interpreten praktisch keine Spielräume mehr vorhanden, im Pop habe man da viel größere Freiheiten. Zagrosek erinnerte daran, dass die Unterscheidung zwischen Komponist und Interpret erst im 19. Jahrhundert aufgekommen sei, Mozart spielte seine Werke noch ganz selbstverständlich selbst.

Doch diese ganze Richtung passte Diederichsen nicht. Er warf seinen Gesprächspartnern vor, sich auf ein zeitlich und lokal begrenztes Phänomen – die europäische Kunstmusik – zu beschränken. Auch der moralischen Lesart von Interpretation im Festivaltitel, bei der von Treue und Verrat die Rede sei, wollte er sich nicht anschließen. Komponist und Interpret seien überdies keine in Stein gemeißelten Kategorien, es handle sich lediglich um Konventionen der Arbeitsteilung. Zagrosek hingegen erschien Diederichsens Ansatz zu weit gefasst, er witterte als Ergebnis ein bloßes „anything goes“.

Leider kam es hier nur zum Schlagabtausch der Ansichten ohne erkennbare Bewegung. Zwar schien der kurzfristig für den erkrankten Komponisten Berhard Lang eingesprungene Schweizer Musikhistoriker und Musiker Peter Kraut ein wenig vermitteln zu wollen – er schlug unter anderem vor, man solle sich in der Klassik vom devoten Verhältnis zum Notentext verabschieden und etwa die Bruckner-Symphonien mal um die Hälfte kürzen, „die finde ich immer zu lang“, alles in allem blieben die Fronten aber verhärtet.

Einen lockeren Umgang mit seinen Vorlagen demonstrierte dafür der englische Pianist Kerry Wong, der Klavierwerke von John Cage, Giacinto Scelsi und Steve Reich auf MIDI-Keyboards darbot und besonders bei den für „prepared piano“ geschriebenen Stücken von Cage beherzt klavierfremde Klänge miteinander kombinierte, die zum Teil nach rhythmisiertem Martial-Arts-Film klangen, zum Teil aber auch wunderbar zart-zerbrechlich daherkamen.

Ulk mit Rettichen

Das ebenfalls geladene Gemüseorchester aus Wien tat, was es bei solchen Gelegenheiten immer zu tun pflegt, und spielte Stücke von Igor Strawinsky bis Kraftwerk auf eigens präparierten Karotten oder Rettichen. Das war nett anzusehen, auf Dauer erschöpfte sich der suppentaugliche Blickwinkel auf die Originale jedoch im Ulk.

Sehr lustig ging es auch am Samstag bei der Neue-Musik-Karaoke in der King Karaoke Bar zu. Hier konnten Freunde der Neuen Musik Gesangsstücke von Arnold Schönberg oder Morton Feldman versuchsweise zu vorbereiteten Instrumentalspuren vortragen. Dabei zeigten sich die Gäste der Haltung nach durchaus der Werktreue verpflichtet, kamen in der Ausführung allerdings meist zu stark abweichenden Ergebnissen.

Als Lockerungsübung für das immer noch recht sperrige Erbe des 20. Jahrhunderts war die Karaoke aber allemal geeignet.

■ „Faithful! Treue und Verrat der musikalischen Interpretation“. Verschiedene Orte, bis 14. Oktober; www.faithful-festival.de