„Das Militär verursachte das Inferno“

330 Schüler und Lehrer starben vor einem Jahr bei der Geiselnahme im russischen Beslan. Die staatlichen Ermittler vertuschen Tathergang und Hintergründe, sagt Stanislaw Kesajew von der unabhängigen Untersuchungskommission

taz: Herr Kesajew, Sie werden öffentlich als „Schnüffler“ beleidigt, weil Sie einen Bericht über die Geiselnahme von Besland verfassen. Warum?

Stanislaw Kesajew: Der russische Vizestaatsanwalt Nikolai Schepel unterstellt unserer Kommission, sie hätte keine gesetzliche Grundlage. Mich nannte er einen gewissenlosen Bürger. Kein Wunder, denn unsere Erkenntnisse decken sich nicht mit der offiziellen Darstellung des Tathergangs. In der Gerichtsverhandlung gegen den einzigen überlebenden Terroristen, Nurpaschi Kulajew, wurde die offizielle Version mehrfach widerlegt.

Worin weichen Ihre Ergebnisse von den offiziellen Ermittlungen ab?

Sie leugnen, dass die Terroristen Forderungen erhoben hätten. Doch das Terrorkommando kam nicht, um Rache zu nehmen. Es forderte, die Armee aus Tschetschenien abzuziehen, es wollte ein Ende des Krieges dort. Dafür haben wir Zeugen.

Die Beslaner sind überzeugt, dass das Dach der Schule erst Feuer fing, nachdem Soldaten auf die Schule geschossen haben …

Ich habe gesehen, wie Panzer das Feuer eröffneten, obwohl alle Geiseln noch in der Schule waren. Der Kommandeur der 58. Armee und Militärs waren im Hof. Sie konnten mir nicht sagen, wer den Beschuss befohlen hatte. Auch der Duma-Kommission sagte der Kommandeur später nichts Konkretes.

Sind die Hintergründe des Einsatzes von Granat- und Flammenwerfern geklärt?

Nein. Schon im September fand ein Mitglied der Duma-Kommission die Hülse eines „Schmel“-Geschosses, eines Flammenwerfers, in der Umgebung der Schule. Er übergab sie den Ermittlern, woraufhin sie spurlos verschwand. Im April wurden wieder Geschosse entdeckt. Diesmal übergaben wir sie vor laufender Kamera. Inzwischen hat auch die Staatsanwaltschaft zugegeben, dass diese Waffen eingesetzt wurden, streitet aber deren verheerende Wirkung ab. Farbreste auf dem Boden der Sporthalle, in der sich die meisten Geiseln befanden, stützen die Vermutung, dass das brennende Dach herunterstürzte und die Geiseln unter sich begrub. Demnach hätten nicht die Detonationen im Innern das Inferno verursacht, sondern die Befreiungsaktion.

Lief bei der Untersuchung alles korrekt?

Die Ermittler gehen vor wie schlechte Schüler. Die gucken in den Lösungsschlüssel und rechnen die Aufgabe dementsprechend deduktiv. Einen Tag nach der Tragödie waren Unbefugte in der Schule und nahmen herumliegende Tarnanzüge und Kleider mit. Wieso wurden nicht alle Beweisstücke sofort sichergestellt und im Labor untersucht?

Wer soll dadurch gedeckt werden?

Wenn Generäle begreifen, dass sie und ihre Untergebenen einer Aufgabe nicht gerecht wurden, erfinden sie Ausreden. Außerdem gab es keinen einheitlichen Krisenstab. Jedes Ministerium wurstelte allein vor sich hin. Die Feuerwehr sagt, sie hätte keinen Befehl erhalten und sei daher erst eine Stunde nach Ausbruch des Brandes angerückt. Dann passten die Anschlüsse für die Wasserschläuche nicht.

Nach der ersten Explosion wurde die Schule gestürmt. Wodurch wurde sie ausgelöst?

Sprengstoffexperten wollen weder eine zufällige Explosion der von den Geiselnehmern montierten Bomben ausschließen noch die andere Version, die sehr viele Geiseln zu Protokoll gaben: Demnach soll der Terrorist, der den Fuß auf dem Zünderpedal hielt, plötzlich in sich zusammengesackt sein. Er könnte von einem Scharfschützen ausgeschaltet worden sein.

Offiziell waren an dem Mordkommando 32 Terroristen beteiligt …

Das ist ein bequemer Ansatz. 32 Terroristen waren es, 31 wurden getötet, einer steht nun vor Gericht. Dieser letzte überlebende Zeuge geht nach geraumer Zeit auch den Weg alles Fleischlichen. In der russischen Haftpraxis wäre dies nichts Neues. Wer aber alle Täter vernichtet, will nichts über die Hintergründe erfahren.

Ist die Zahl realistisch?

Wer in der Armee gedient hat, fragt sich, ob 32 Leute in der Lage gewesen sein können, so lange erbitterten Widerstand zu leisten. Ich habe gehört, wie Milizionäre über Funk warnten, dass sich die Terroristen umzögen und flüchteten. Wer entkommen ist, wird seine tödliche Arbeit fortsetzen. Die Ermittler scheinen dies nicht einzukalkulieren.

Der entmachtete tschetschenische Präsident Aslan Maschadow soll bereit gewesen sein, zu vermitteln?

Es muss eine Absprache mit der Umgebung Maschadows gegeben haben, er wollte wohl am Freitag kommen. Doch Freitag begann der Sturm. Als Vermittler – zudem erfolgreicher – wäre er als wichtige politische Figur aufgewertet worden, was Moskaus Bild eines armseligen, einflusslosen Terroristen widerlegt hätte. Doch ohne politische Lösung in Tschetschenien gibt es keinen Frieden. Die Mehrheit im Kaukasus denkt so und auch die Zentrale in Moskau hat das begriffen.INTERVIEW: KLAUS-HELGE DONATH