Mit Anmut punkten

Bei der Turn-EM in Glasgow begeistern die Niederländerinnen mit einem neuen künstlerischen Ansatz

Audrucksstark: Céline van Gerner bei ihrer Bodenübung Foto: imago

Aus Glasgow Sandra Schmidt

Als Céline van Gerner auf die Bodenfläche trat, staunten die Zuschauer nicht schlecht: Sie hatte Schminke aufgelegt wie eine Musical-Tänzerin und verband die geforderten Salti und Schrauben in ihren anderthalb Minuten zur Titelmusik von „Cats“ mit im Turnen so noch nicht dagewesener mimischer und darstellerischer Ausdruckskraft. Für ihre Ausführung am Sonntag erhielt sie fast einen halben Punkt mehr als die gesamte Konkurrenz im EM-Bodenfinale in Glasgow und wurde so mit nur zwei akrobatischen Reihen Vierte.

Der sehr mutige Auftritt der 23-Jährigen war gewissermaßen das I-Tüpfelchen eines überzeugenden Teamauftritts. Denn auch den übrigen Darbietungen am Boden, so zum Beispiel Vera van Pols Übung zur Titelmusik von „Rocky“, ist anzumerken, wie viel Zeit hier der Choreografie und dem Erzählen einer Geschichte gewidmet wird. Und man sieht es nicht nur auf der Bodenfläche: Sanne Wevers, Olympiasiegerin am Schwebebalken von 2016, zeigte in Perfektion, wie man Eleganz und Ausstrahlung auf das schmale Gerät bringt: Sie fügte drei einbeinige Drehungen aneinander, eine davon um 360 Grad, daran noch einen Spagatsprung und einen Strecksprung mit ganzer Drehung. Diese Kombinationen mögen einfach aussehen, sind es aber keineswegs, daher erhalten sie auch zusätzliche Punkte in der Schwierigkeitsnote. Die Mühen wurden belohnt: Die Niederländerinnen gewannen mit Bronze erstmals eine Teammedaille, die fast 27-jährige Wevers den Titel am Balken.

Was das niederländische Frauenturnen da zeigt, hat System. Ende Juli wurde mit einem neuen Internetauftritt der Weg zu den Olympischen Spielen 2020 eingeläutet. Das Motto lautet: „The force is grace“ („Die Stärke ist Anmut“). Der einführende Videoclip beginnt mit einem Statement der erwachsenen jungen Frauen in Straßenkleidung: „Wir sind alle unterschiedlich, wir alle haben unseren eigenen Stil und unser eigenes Leben.“ Das Team hatte eine Weile diskutiert und sich dann auf das Motto und drei Substantive geeinigt, die den Anspruch formulieren: Eleganz, Ausstrahlung und Teamspirit.

„Wir nähern uns dem Turnen von der künstlerischen Seite“, erklärte Patrick Kiens, einer der Trainer, bereits im vergangenen Jahr. Er hat nicht nur Sport studiert, sondern auch Darstellende Kunst. Ebenso sein Kollege Daymon Montaigne-Jones, der jahrelang als Darsteller im „Cats“-Ensemble agierte. Kiens bestätigt, dass die Wertungsvorschriften dem künstlerischen Part mehr Gewicht einräumen als früher, aber es reicht ihm noch lange nicht. „Natürlich muss man dieses Power-Turnen auch berücksichtigen“, sagt er mit Blick auf die traditionelle Herangehensweise und fügt lachend hinzu: „Ich finde, es sollte zwei Kategorien geben!“

In der Tat hat eine Performance wie jene von Céline van Gerner mit der akrobatischen Show einer Simone Biles wenig gemein. Der künstlerische Ausdruck wird im Gegensatz zu akrobatischen Höchstschwierigkeiten nicht explizit belohnt. Deshalb konzentrieren sich die Topnationen auf die Aneinanderreihung von möglichst vielen schwierigen turnerischen Elementen. Die Musik läuft dabei nicht selten nebenher, die Mimik spielt keine Rolle. „Die können nur schön“, hörte man in der Vergangenheit aus dem deutschen Lager zu den niederländischen Übungen. Die deutschen Turnerinnen allerdings haben es in Glasgow weder ins Teamfinale noch zu einer Medaille gebracht.