Endlich mal richtige Volksmusik

EXPERIMENT Das Solistenensemble Zeitkratzer spielt auf seinem neuen Album „Neue Volksmusik“. Mit Jodeln, Kuhglocken und Punk-Haltung

„Volksmusik“ ist eines der Wörter, mit denen man die Toleranz seiner Gesprächspartner bestens auf die Probe stellen kann. Dass viele Zeitgenossen bei dem Ausdruck unwillkürlich zusammenzucken, liegt unter anderem daran, dass man geneigt ist, unter Volksmusik in erster Linie die Klangereignisse zu verstehen, die einem unvorsichtigen Fernsehzuschauer mitunter zur Abendstunde aus den Programmen der öffentlich-rechtlichen Sender entgegenschallen. Dabei dürfen die „Musikantenstadl“ ihre Musik nicht einmal als Volksmusik verkaufen, sondern sind verpflichtet, sich mit dem Ausdruck „volkstümliche Musik“ um die Sache herumzumogeln. Echte Volksmusik gibt es anderswo. Sofern man überhaupt von „echter“ Volksmusik sprechen kann.

Reinhold Friedl, der mit seinem Solistenensemble Zeitkratzer schon das zweite Album mit Volksmusik eingespielt hat, macht sich wenig Illusionen über Authentizität: „Volksmusik ist ein komisches Konglomerat aus irgendwelchen Traditionen, die relativ neu sind und eigentlich Hirngespinste. Also gemachte Traditionen, die nicht viel älter sind als die Biedermeierzeit oder die Trachten. Das ist ja alles zeitgleich erfunden worden, die Alpen, die Almen und das Bergsteigen und der Käse.“

Dass Zeitkratzer, sonst für atonale Klangexperimente oder Interpretationen von „Old School“-Modernisten wie John Cage oder Karlheinz Stockhausen bekannt, sich überhaupt der Volksmusik zugewandt haben, begann zunächst aus Spaß. Als Friedl einmal mit seiner Frau überlegte, was für Musik er sich sonst noch aneignen könne, habe sie vorgeschlagen: „Hei, ihr müsst mal Volksmusik machen!“ Friedl ging darauf bergsteigen, wagte sich ins Bierzelt und betrieb dort ein wenig Feldforschung.

Doch dann machte er Ernst, hörte sich durch zahllose Aufnahmen aus Archiven in Bayern und der Schweiz und war durchaus angetan von seinen Entdeckungen. „Es gibt lustige, heftige, beeindruckende Traditionen, die musikalisch super ausgearbeitet sind, die also nichts mit volkstümlicher Musik Samstagabend im Fernsehen zu tun haben.“

Das gilt erst recht für die „Neue Volksmusik“ von Zeitkratzer, die Jodeln, Kuhglocken oder Alphörner in sehr ungewohnte Zusammenhänge stellt und auch vor dissonanten Klängen nicht haltmacht. Jedoch, wie Riedl hervorhebt: „Was wir gemacht haben, ist weniger eine Verbindung von Volksmusik und Neuer Musik als von Punk und Volksmusik, als erfrischendes und vereinfachendes Element.“ Notenmaterial wurde nur sparsam eingesetzt, pro Stück eine Seite.

Was an diesem furchtlosen Zugriff auf Volksmusik vielleicht am meisten überrascht, ist der Umstand, dass die Aufnahmen der Platte live entstanden – beim Schweizer Alpentöne-Festival am Vierwaldstättersee. Friedl bekennt offen, stolz darauf zu sein, dass Zeitkratzer tatsächlich zu einem Volksmusik-Festival eingeladen wurde. Dem Applaus nach zu beurteilen, hatten die anarchischen Töne beim Publikum auch Erfolg. „Bei dem Festival hatten wir am Ende richtige Fans“, so Friedl. „Da kamen welche und meinten: ‚Danke, endlich macht jemand richtige Volksmusik!‘ “

Denn wenn es eines nicht gebe, dann sei es die Idee einer reinen Volksmusik. Friedl hat dafür ein anschauliches Beispiel aus dem asiatischen Raum, wo untersucht wurde, wie stark sich volksmusikalische Traditionen von Generation zu Generation verändern. „Die Musik ist sogar unterschiedlich von Dorf zu Dorf. Und die haben jeweils ihre Dorftraditionen. Wenn man eine Generation später guckt, hat die Musik sich wirklich verändert. Das ist, wie Musikmachen funktioniert.“ TIM CASPAR BOEHME

■ Zeitkratzer: „Neue Volksmusik“ (Zeitkratzer Productions/Broken Silence)