Karadžić glänzt wieder durch Abwesenheit

UN-TRIBUNAL Auch am zweiten Prozesstag erscheint der frühere Präsident der bosnischen Serben nicht zur Verhandlung. Dadurch gerät das Gericht immer stärker unter Druck. Erste Anklagepunkte dargelegt

AMSTERDAM taz | Das Verfahren gegen den ehemaligen Präsidenten der bosnischen Serben, Radovan Karadžić, wegen Völkermordes, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit entwickelt sich immer mehr zur Farce: Am Dienstag begann die Anklage mit der Darlegung ihrer Vorwürfe, doch Karadžić’ Platz im Gerichtssaal 1 des Jugoslawientribunals blieb erneut leer. Der 64-Jährige beruft sich darauf, er habe zu wenig Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung.

„Es ist ihm nicht gelungen, heute Nacht eine Million Seiten zu lesen“, ließ ein Mitglied seines juristischen Beraterstabs am Morgen nach einem Telefonat mit Karadžić wissen. Diesen Umfang hat das Beweismaterial, das die Anklage des Tribunals zusammengetragen hat. Karadžić, der sich selbst verteidigt, fordert eine Verschiebung des Prozesses um neun Monate.

Für den Gerichtshof, der 1993 von den UN eingerichtet worden war, um zu einer friedlichen Neuordnung des Balkans beizutragen, wird die Lage damit allmählich brisant. Chefankläger Serge Brammertz erklärte am Morgen noch, es sei nun „an der Zeit, den Prozess zu beginnen“ und die Opfer in dessen Mittelpunkt zu stellen. Ebendiese hatten nach dem Abbruch des ersten Verhandlungstags vor dem Gerichtsgebäude ihre Wut und Enttäuschung geäußert. Jedes weitere Fernbleiben Karadžić’ untergräbt das Ansehen des Tribunals bei den Muslimen Bosniens, während es bei vielen Serben als Instrument einer Siegerjustiz im Auftrag der Nato verrufen ist.

Aus diesem Grund beschränkt sich das Gericht bisher lediglich auf Drohungen: Karadžić verspiele durch seinen Boykott das Recht, sich selbst zu verteidigen, sagte der Vorsitzende Richter O- Gon Kwon am Dienstag.

Vor der für kommenden Montag geplanten Fortsetzung des Verfahrens stehen die Richter demnach unter Zugzwang: Die Anklage fordert, Karadžić einen Pflichtverteidiger zur Seite zu stellen. Dieser bräuchte indes ebenfalls eine Einarbeitungszeit. Zudem kündigte Karadžić bereits an, in diesem Fall die Zusammenarbeit zu verweigern.

TOBIAS MÖLLER