Stilles Gedenken und laute Kritik

Ein Jahr nach der Geiselnahme im südrussischen Beslan mit 331 Toten erheben die Hinterbliebenen schwere Vorwürfe gegen den Kreml. Dieser verschleppe bewusst die Aufklärung der Tragödie. Den Westen bitten die Betroffenen um politisches Asyl

AUS BESLAN KLAUS-HELGE DONATH

Mit vier Schlägen der alten Schulglocke um Viertel nach neun wurde gestern in Beslan der 331 Opfer gedacht, die bei der Geiselnahme in der Schule Nummer 1 vor einem Jahr ums Leben gekommen waren. 1.150 Geiseln hatte ein Terrorkommando in seine Gewalt gebracht. Die Befreiungsaktion zwei Tage später endete in einem Blutbad, dessen Hintergründe bis heute nicht geklärt sind.

Hunderte von Trauernden zogen seit dem frühen Morgen in die Turnhalle der Schule, in der die meisten Geiseln festgehalten worden waren. Vor dem Eingang der als Gedenkstätte hergerichteten Ruine stehen zwei Stelen aus schwarzem Granit, über die ein dünnes Wasserband rinnt. Es symbolisiert Tränen und das Wasser, das den Geiseln verweigert wurde. Auch in der Halle erinnern offene Wasserflaschen an die Qualen. Stofftiere, Blumen und Honigkerzen liegen in den Fensterhöhlen. An den Wänden hängen die Porträts der Opfer. Die Atmosphäre könnte bedrückender nicht sein.

Als Vertreter Moskaus nahm der Kreml-Beauftragte für Russlands Süden, Dmitri Kosak, am Gedenken teil. Die Hinterbliebenen hatten zuvor darauf hingewiesen, dass ihnen an der Teilnahme hochrangiger Politiker aus Moskau nichts gelegen sei.

Die Emotionen schlagen hoch in Beslan, da der Kreml die Aufklärung der Geiselnahme nach Meinung der Betroffenen verschleppt und für das Blutbad verantwortliche Politiker und Militärs nicht zur Rechenschaft zieht. Das „Komitee der Mütter von Beslan“ ist entschlossen, die Wahrheit herauszufinden und den Kreml zum Eingeständnis seiner Schuld am Tod ihrer Kinder zu zwingen.

Während der Gedenkfeier ließen die Mütter vor den Ruinen der Schule eine „Erklärung an die Staatschefs demokratischer und Menschenrechte achtender Staaten“ verlesen. „Wir möchten in diesem Land nicht mehr leben, wo das Leben eines Menschen nichts zählt“, heißt es in der Erklärung, in der die Frauen demokratische Staaten um politisches Asyl bitten. Auch mit seinen Vorwürfen gegenüber dem Kreml hält sich das Komitee nicht mehr zurück. Zwar habe ein Terrorakt stattgefunden. Die Terroristen hätten auch 21 Männer erschossen, Frauen und Kinder hätten sie aber nicht getötet. „Wer hat die mehr als 300 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder, umgebracht?“, fragen die Frauen.

Um „ihr eigenes entstelltes politisches Image zu retten“, heißt es in der Erklärung, hätten die Verantwortlichen mit den Terroristen nicht verhandelt. Das brutale Vorgehen bei der „Befreiung“ habe offenbar damit zu tun, dass die Geiseln in den Augen russischer Politiker „Personen kaukasischer Nationalität“ seien. Man sei mit ihnen umgegangen, wie man es im Schlachthaus nicht einmal mit Vieh tue.

Erstmals stellt das Komitee der Mütter auch einen Bezug zwischen Terror und dem Tschetschenienkrieg her, der vom Kreml bislang geleugnet wird. „Wir glauben, dass der Hauptgrund für die Ausbreitung des Terrors in Russland die Entfesselung eines brutalen Krieges gegen das eigene Volk in Tschetschenien ist.“ Für heute war ein Treffen Präsident Wladimir Putins mit einer Delegation der Mütter im Kreml geplant. Dies könnte der Kremlchef nun womöglich noch mal überdenken.