Polizeikomplex mit vielen Facetten

BESCHLUSS Der Bundesgerichtshof hat unter das Verfahren um die Massenschlägerei von Neuwiedenthal einen Schlussstrich gezogen und den Freispruch der Angeklagten durch das Landgericht bestätigt

Die Fahndung sei weder dokumentiert noch überprüfbar, so Richterin Birgit Woitas

Die Eskalation der Gewalt zwischen Polizisten und Bewohnern in Neuwiedenthal am Abend des 26. Juni 2010 machte Schlagzeilen. Unter anderem auch, weil der damalige Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU) wegen der Massenschlägerei bundesweit eine Verschärfung des Strafrechts bei Gewalt gegen Polizisten durchsetzen wollte. Inzwischen sind die beiden Angeklagten Amor S. und Avni A. rechtskräftig freigesprochen worden. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Revision gegen die Freisprüche des Landgerichts abgewiesen.

Auslöser der Eskalation war eine Bagatelle. Zwei Polizisten wollten einen „Wildpinkler“ überprüfen. Als der betrunkene Mateusz W. sich verweigerte, schlug der Beamte Günter J. mit seinem Teleskopstab auf den Mann ein. Das ist auf Videoaufnahmen zu sehen. „Warum schlagen Sie den armen Mann“, ruft ein Passant. Js. Kollege erhebt den Knüppel und sagt: „Komm her, du Feigling.“ Binnen weniger Minuten entwickelte sich eine Massenschlägerei zwischen Anwohnen und herbeigeeilten Polizisten. Dabei bekam Günter J. einen Tritt ins Gesicht, wodurch er mehrere Schädelbrüche in der Augenhöhle erlitt, insgesamt wurden fünf Polizisten verletzt. Der Chef der Polizeigewerkschaft (DPolG), Joachim Lenders, sprach vom „Abschaum der Straße“.

Obwohl es von der Polizei keine Funkfahndung nach einem vermeintlichen Täter gab, konzentrierte die Polizei tags darauf ihre Ermittlungen auf Amor S. Sie stützte sich dabei auf die Angaben des Zivilfahnders Jörg Sch., der den 32-Jährigen von früher als Jugendstraftäter kannte und der für ihn zum „Sumpf der Straße“ gehört.

Im Gerichtsverfahren verhielten sich die Polizisten merkwürdig. Entweder hatten sie nichts gesehen oder sie verweigerten die Aussage, um sich nicht selbst zu belasten. Auch der Zivilfahnder Jörg Sch. Er wiederholte im Gerichtssaal kurz seine Anschuldigung, stand aber für Nachfragen nicht zur Verfügung.

Die DPolG versuchte über den zweiten Nebenklageanwalt Andreas Karow massiv Einfluss auf den Prozess zu nehmen. Karow beschuldigte das Gericht der Befangenheit, nannte Neuwiedenthal ein „mafiöses Ghetto“, in dem S. das Sagen habe und setzte zu guter Letzt sogar noch ein 1.000-Euro-Kopfgeld aus und führte mit Steckbriefen „eigene Nach-Ermittlungen“ an. Amor S. sollte um jeden Preis der Tat überführt werden, obwohl Augenzeugen ausgesagt hatten, dass S. „deeskalierend auf die Menge“ eingewirkt habe.

Unter diesen Voraussetzungen sprach das Landgericht unter Vorsitz von Richterin Birgit Woitas Amor S. frei – zumal die Angaben von drei weiteren Zivilfahndern, die noch in der Nacht mit Jörg Sch. nach S. gefahndet haben wollen, „nicht überprüfbar“ und „nirgends dokumentiert worden“ seien, so Woitas.

Staatsanwaltschaft und Nebenklage gingen zwar in Revision, die Anklagebehörde zog diese aber „ohne Aussicht auf Erfolg“ zurück. Nebenklageanwalt Karow sowie sein Kollege und Ex-Innenstaatsrat Walter Wellinghausen, der den schwerverletzten J. vertreten hatte, wollten jedoch eine Entscheidung, da dem Zivilfahnder Sch. „kein Zeugnisverweigerungsrecht zugestanden“ hätte. „Das Gericht hätte ihn noch einmal vorladen müssen“, so Wellinghausen. Das hat der Hamburger Senat am BGH in Leipzig anders gesehen. KVA