Merkel sonnt sich schon auf dem Gipfel

Für die Kameras Einigkeit vorspielen – nur darum ging es bei einem Treffen der Kanzlerkandidatin mit ihren Koalitionspartnern in spe. Die ausgeklammerten Konflikte? „Nehmen Sie das Papier so, wie es ist.“ Kritik von Kanzler Schröder? „Das ist schön.“

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF

Zwischen Siegessicherheit und Arroganz liegt ein schmaler Grat. Angela Merkel hat ihn gestern zum ersten Mal in diesem Wahlkampf überschritten. Nach dem so genannten Wechselgipfel in Berlin mit den Spitzenkräften von Union und FDP hielt es die Kandidatin nicht mehr für nötig, auch nur so zu tun, als nähme sie irgendwelche Zweifel oder Kritik an ihrem Programm noch ernst.

Ein amtierender Bundeskanzler, der ihr unsoziale Politik vorwirft? Journalisten, die Widersprüche zwischen Schwarz und Gelb ansprechen? Ach Gottchen. Da kann die Kanzlerin in spe nur schmunzeln. Ja, selbst die eigene Veranstaltung, zu der sie geladen hatte – für Merkel alles nur noch Kokolores. Kinkerlitzchen. Ohne Bedeutung auf dem scheinbar schon frei geräumten Weg ins Kanzlerinnenamt. So antwortete Merkel auf die Frage, warum sie mit CSU-Chef Edmund Stoiber, dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle und den anderen Teilnehmern des Wechselgipfels eine Viertelstunde länger zusammensaß als vorher angekündigt: „Wir wollten sicher stellen, dass die Kameras alle stehen.“ Bis dahin, so Merkel, habe man sich „gut unterhalten“.

Selten wurde Pressevertretern derart deutlich beschieden, welche Rolle sie gefälligst spielen sollten. Erstens: schöne Bilder machen vom vereinten schwarz-gelben Trio. Zweitens: die „gemeinsame Erklärung der Vorsitzenden von CDU, CSU und FDP“ in alle Welt verbreiten. Darin hatten die potenziellen Koalitionspartner ein paar ohnehin bekannte, überaus vage Gemeinsamkeiten aufgeschrieben („Arbeit hat Vorfahrt“, „Priorität für Familien“) und sämtliche programmatischen Unterschiede ausgeklammert. Nachfragen: offensichtlich nicht erwünscht. Als jemand trotzdem wissen wollte, warum das hässliche Wort „Mehrwertsteuer“ in dem schönen Papier nicht vorkommt und wie sich Merkel (für Erhöhung) mit der FDP (gegen Erhöhung) da zu einigen gedenkt, bekam er zur Antwort: „Ich darf Sie bitten, das Papier so zu nehmen, wie es ist.“

Man werde sich nach gewonnener Wahl schon irgendwie zusammenraufen, gab sich Merkel sicher, und zwar „schneller, als Sie gucken können“. Egal, dass Westerwelle gestern erst in einem Interview mit der Westfälischen Rundschau verkündet hatte: „Die Mehrwertsteuer wollen wir verhindern. Sie kostet Kaufkraft und fördert die Schwarzarbeit.“ Ebenso egal, dass der FDP-Chef wissen ließ, wie wenig er von Merkels neuem Wirtschaftspolitik-Berater Heinrich von Pierer hält. Die Berater der FDP, teilte Westerwelle mit, kämen im Unterschied zum Siemens-Mann von Pierer „vor allem aus dem Mittelstand“. Dort würden schließlich 60 Prozent der Arbeitsplätze geschaffen, „während viele große Firmen Jobs in Deutschland abgebaut oder ins Ausland verlagert haben“. Ein Schelm, wer da nicht an von Pierer denkt, der als Siemens-Chef rund ein Drittel der Stellen in Deutschland kürzte. In Anbetracht der stabilen Umfragewerte für die Union nimmt es Merkel schweigend bis wohlwollend hin, dass Westerwelle auf diese subtile Weise die Zweitstimmen-Kampagne der FDP ankurbelt.

Bei gemeinsamen Auftritten ganz lieb lächeln, die Kandidatin preisen und andernorts abweichende Positionen äußern – diese Kunst beherrschen neben Westerwelle auch viele CDU-Ministerpräsidenten. Bisher hat es Schwarz-Gelb ebenso wenig geschadet wie die unberechenbaren Sprüche von Rentner- und Frauenschreck Paul Kirchhof.

Und so hakte Merkel gestern auch ganz schnell die heftigen Angriffe gegen das Unions-Programm ab, für die Gerhard Schröder auf dem SPD-Parteitag gefeiert worden war wie lange nicht: „Man setzt sich mit uns auseinander, das ist schön.“