Auf dem Trip nach Süden

Wer ins Krisengebiet reist, trifft auf umherirrende Überlebende. Die Motels sind überfüllt, und langsam wird das Benzin knapp

„Essen Sie eine Suppe, bevor Sie weiterfahren! Das nächste freie Zimmer ist aber erst hinter Atlanta“

AUS MERIDIAN, MISSISSIPPI, SEBASTIAN MOLL

Als Jack Warren vor zehn Tagen von New Orleans nach New York flog, war er noch sehr guter Dinge. Am Rande der US Open wollte der Tennislehrer aus dem sonnigen Louisiana bei einer Konferenz das Neueste aus dem Bereich der Sportdidaktik lernen und nebenbei mit seiner Frau ein bisschen Urlaub in der Ostküsten-Metropole machen.

Am Mittwochnachmittag sitzt das Paar jedoch mit von Schlaflosigkeit und Tränen geröteten Augen im New Yorker Flughafen La Guardia und starrt fassungslos auf die Zeitungsbilder seiner verwüsteten Heimatstadt. Die beiden sind nun unterwegs nach Memphis.

„Mein Boot wird wohl futsch sein“, sagt Jack etwas verwirrt – vor niederschmetternden Gedanken an sein Haus oder gar an seine Zukunft schützt ihn im Moment noch der Schock. Immerhin, er hat von seinen Eltern gehört, dass sie sich in Memphis, Tennessee, in Sicherheit bringen konnten. Dorthin wollen er und seine Frau jetzt fliegen. Sie sind verunsichert, haben Angst vor dem, was sie dort im Süden möglicherweise erwartet.

„Was auch immer kommen mag“, sagt Jacks Frau, die offenbar klarer sieht als er, „wir haben ja uns.“

Der Nächste, die Familie – so sie unversehrt sind – sind für viele der hunderttausenden Flüchtlinge im amerikanischen Süden derzeit der einzige Trost, der ihnen bleibt. Ihre Existenz, ihre Heimat sind von „Katrina“ weggeblasen und weggespült, eine Aussicht auf Rückkehr in ein geordnetes Leben gibt es derzeit nicht. Im Gegenteil, das Chaos im Krisengebiet scheint sich stündlich zu verschlimmern.

Selbst in Birmingham, Alabama – gut sechshundert Kilometer von New Orleans entfernt – ist am Mittwoch die Stromversorgung immer wieder unterbrochen. Die Tankstellen verkaufen hier, in Birmingham, zwar noch Benzin, der Gouverneur hat jedoch vorsorglich empfohlen, das Auto, wenn es irgendwie geht, stehen zu lassen. In den kommenden Tagen wird ein massiver Treibstoffengpass erwartet. Was das für die Nothilfe und für die Flüchtlingsströme bedeutet, möchte man sich noch gar nicht ausmalen.

Etwa dreihundert Kilometer vor New Orleans entfernt, in Meridian, Mississippi, kündigt sich in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag die drohende Verschlimmerung der Lage bereits an. An einer Tankstelle entlang der Interstate 20 dauert es zwei Stunden, bis man zur Zapfsäule vordringt. Diesel und Normal Bleifrei sind aus; wann die nächste Lieferung kommt, weiß niemand.

„Ich hoffe, dass ich mit dieser Tankfüllung noch bis Atlanta komme“, sagte ein dunkelhäutiger Flüchtling aus New Orleans. Er irrt seit fünf Tagen durch den amerikanischen Süden. Drei Nächte hat er in Houston, Texas, im Hotel übernachtet – jetzt geht ihm langsam das Geld aus. In Atlanta, Georgia, will er bei einer Verwandten unterkommen.

Georgia ist für viele hier in Meridian in der Nacht zum Donnerstag das Wunschziel. Denn Mississippi, Alabama und Louisiana können den Flüchtlingen nicht mehr helfen. Die Dutzenden Motels entlang der Interstate haben allesamt große Schilder vor ihren Türen aufgestellt: NO VACANCY.

Wer bis zum Nachtportier vordringt, bekommt ein Flugblatt mit den Anschriften der Flüchtlingslager des Roten Kreuzes in der Stadt gereicht. „Dort können Sie eine warme Suppe essen und sich ausruhen, bevor Sie weiterfahren“, sagt der Mann an der Rezeption des Super 8-Motel. „Das nächste freie Zimmer ist allerdings erst hinter Atlanta.“ Von Meridian aus sind das beinahe fünfhundert Kilometer.

Auf dem Parkplatz vor dem Hamptons Inn sitzt eine junge Frau aus New Orleans neben ihrem voll gepackten Auto. Sie hält ihr Baby im Arm. Ein junger Mann, der auch von den Motelangestellten abgewiesen wurde und rauchend auf dem Parkplatz herumlungert, kommt auf sie zu. Er freut sich: „Ich kenne dich: Du bist mir letztes Jahr beim Karneval im French Quarter aufgefallen.“ Die Frau erinnert sich ebenfalls: „Ja, ich habe dich auch gesehen, du warst als Fee verkleidet.“ Die beiden lachen und lassen für einen Moment ihre zerstörte Heimat gedanklich auferstehen.

Solche Erinnerungen werden für die meisten Flüchtlinge bis auf weiteres die einzige Heimat sein. Zumindest für diejenigen, die direkt am Golf von Mexiko einmal ihr Zuhause hatten.

Etwas weiter nördlich, in Jackson und Hattiesburg, können die meisten Häuser repariert werden. Dafür sorgt nicht zuletzt Elizabeth, die das Glück hatte, noch ein Zimmer in Meridian zu bekommen, bevor der Strom der Obdachlosen aus dem Süden hier ankam. Sie ist im Auftrag einer Versicherungsgesellschaft unterwegs, um vor Ort Schäden zu regulieren. „Ich habe heute Dutzende von Schecks ausgestellt“, strahlt sie. Etwas tun zu können ist am Mississippi in diesen Tagen ein besonders rares Glücksgefühl.