Das System frisst sich selbst

Schuld im Klassenzimmer. Das Jugend-Drama „Klamms Krieg“ von Kai Hensel im Herner Kohlenpott-Theater. Der glänzende Joachim Hermann Luger spielt einen furchtbar authentischen Lehrer

VON PETER ORTMANN

Ein Leben für einen Punkt. Die Schule schafft zunehmend leere Hülsen, beklagt ab und an auch SelbstmörderInnen vor und hinter abgewetzten Pulten. Wen kümmert es? „Niemand hat jemals das System als solches hinterfragt“, sagt der Bochumer Regisseur Frank Hörner. Er inszenierte den Schulklassen-Renner „Klamms Krieg“ von Kai Hensel im Herner Kohlenpott-Theater. Geht damit in die Oberstufen der Gymnasien in Nordrhein-Westfalen und will Diskussionen unter Lehrer und Schülern anregen, die unhaltbare Situation reflektieren. Das sei sinnvoll. Aber macht das überhaupt Sinn? Seit drei Jahren ist Hensels Stück auf dem Markt, wurde mit dem deutschen Jugendtheaterpreis ausgezeichnet. In der Republik wird es von Bayern bis zur Nordsee gespielt, alle Theatergruppen drängt es auch zum Diskutieren in die höheren Lernanstalten im jeweiligen Umfeld. Und?

„Jedes System hat seine Währung“, sagt Klamm irgendwann seinem Deutsch-Leistungskurs. In einer Schule sind das die Punkte, die über Wohl und Wehe und am Ende übers Abitur entscheiden. Gute Schüler hätten enorme Vorteile, wären unangreifbar. Welcher Kollege traue sich schon einem der Jugendlichen eine schlechte Note zu geben, wenn viele andere ihn mit den zweistelligen Punkten überhäufen. Klamm hat das wackelige Gebäude der staatlich verordneten Grund-Ausbildung analysiert, hat es als marode erkannt und kann doch nichts dagegen tun. Nun steht er in der Schusslinie – wegen diesem einen Punkt, der über ein Schüler-Leben entschied. Sascha hing tot am Baum. Klamms Leistungskurs lastet ihm die Schuld für den Selbstmord an. In einem Brief erklären die Schüler ihm den Krieg. Der Lehrer steht vor einer schweigenden Klasse. Verteidigt, erklärt, provoziert und besorgt sogar Waffen für einen Krieg, den er eigentlich für seinen eigenen hält. Die Dossiers des Lehrpersonals, die er über Jahre in seinem Keller gesammelt hat, belegen die enorme Geringschätzigkeit und den perfiden Sadismus gegen die anvertrauten Schülern hinter den Kulissen eines Lehrerzimmers. Dann schlägt sich Klamm zu Hause den Kopf an seinem Waschbecken an, er glaubt zu sterben. Mit Blut kann er gerade noch drei Worte auf die Klobrille pinseln – „mehr Platz ist da einfach nicht mehr“. Der Deutschlehrer zögert. Es sollen die wichtigsten drei Worte werden und entscheidet sich für „Lehrer sind Mörder“.

Regisseur Hörner teilt die Zeit zwischen den einzelnen Schultagen mit einem Metronom. Gleichförmig läuft die Zeit dort ab, durch nichts zu stoppen, außer durch einen zielgerichteten Griff in die Mechanik. „Ich bin der letzte Lehrer“ stammelt Klamm. Der Rest des Lehrerzimmers hätte aufgegeben oder sich den Schüler angebiedert. Sascha sei fürs Abitur gestorben, weil er dessen Wert mit ihm geteilt habe. Klamms Klasse bleibt gefährlich stumm. Die Sozialpädagogen im Publikum lachen merkwürdig oft, verwandeln das Drama in Realsatire. Der Krieg ist also Realität, Waffen und Argumente bekannt. „Nur die Toten haben das Endes des Krieges gesehen“ – wusste schon Plato.

20:00 Uhr, Flottmann-Hallen, HerneInfos: 0234-93538488