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Berlinerin zu sein ist etwas Besonderes

Die pensionierte Schulamtsdirektorin Heike Keidies-Benkert ist in Berlin geboren, hat aber über die Hälfte ihres Lebens nicht in ihrer Geburtsstadt verbracht. Jetzt wohnt sie wieder hier. Im zwölften und letzten Teil ihrer Serie trifft sich Henriette Harris mit der neuen „alten“ Berlinerin

Von Henriette Harris

Heike Keidies-Benkert ist vor zwei Wochen Urgroßmutter geworden. Schon vor dem Botanischen Garten, wo wir auf den Fotografen warten, erzählt sie mir von der kleinen Maya. Ihr Enkelsohn, der 21 Jahre ist, und seine Freundin hatten sich einen Sohn gewünscht. „Aber auf dem ersten Foto, das er mit der Kleinen auf der Brust gleich nach der Geburt gepostet hat, hat er geschrieben: ‚I love you now and forever‘“, ­erzählt sie und Tränen steigen ihr in die Augen. „Entschuldigung, ich bin sehr nah am Wasser gebaut“, sagt sie, und ich sage, dass sie sich bei einer Dänin nicht zu entschuldigen brauche. Dänemark ist vom Wasser umgeben.

„Ich war noch nie im Botanischen Garten“, sagt Heike Keidies-Benkert, als wir rein­gehen. Aber lange sind wir nicht da, da taucht sie schon mit André, dem Fotografen, in einem Farnkräuterbeet unter, stellt sich unter den Rasensprenger und verschwindet für eine halbe Stunde mit ihm ins große Gewächshaus, das wie eine Kathedrale aus Glas aussieht. Sie lacht die ganze Zeit, kommentiert die Pflanzen und ist vollkommen uneitel. Wahrscheinlich weiß sie, wie hervorragend sie mit ihren roten Haaren und weißer Bluse mitten im Grünen aussieht.

Für den letzten Artikel meiner Serie über Neu-Berliner habe ich mir eine neue „alte“ Berlinerin ausgesucht. Heike Keidies-Benkert ist im Januar 1943 in Berlin geboren. Mitten im Krieg in Neu-Westend. „Mein Vater war Filmtonmeister. Er hat die Tonspur bei Siemens entwickelt, und weil er am Tag meiner Geburt arbeiten musste, hat sich meine Mutter begleitet von einer – tatsächlich – dänischen Freundin auf den Weg ins Krankenhaus begeben. Aber weil sie Angst hatten sich zu verlaufen, haben sie wie Hänsel und Gretel kleine Steine hinter sich in den Schnee geworfen“, erzählt sie, als wir uns vor das Café am Gewächshaus setzen.

Als junge Frau hat Heike Keidies-Benkert geheiratet und zwei Kinder bekommen. Mit 27 Jahren hat sie ihren ersten Mann für ihre große Liebe, einen Bayern, mit dem sie noch heute verheiratet ist, verlassen und ist von Berlin weggezogen. Die meisten von den 45 Jahren, die sie insgesamt weit weg von ihrer Geburtsstadt wohnte, hat sie in Bad Vilbel bei Frankfurt am Main verbracht. Da ist das Paar wegen des Berufs ihres Mannes hingezogen.

„Ich hatte zu Frankfurt am Main überhaupt keine Erwartungen. Null. Da kann man nur sterben, dachte ich. Aber ich musste bald zugeben, dass es dort sehr nett war. Wir haben schnell einen Freundeskreis in unserem Alter gefunden. Wir haben uns wohl gefühlt und ich habe mit Leidenschaft Kar­riere gemacht. Ich bin da aber immer als die Berlinerin bezeichnet worden. Ich berlinere nicht, aber trotzdem: Ich bin direkter. In Hessen redet man drum rum“, sagt sie.

Die Karriere fing schon in Berlin an. „Meine Mutter wollte so gern, dass eine ihrer zwei Töchter Lehrerin würde, aber ich wollte nicht. Ich habe eine Ausbildung zur Moderedakteurin bei einem Verlag gemacht. Da arbeitete ich zwei Jahre, und in mein Zeugnis hat mein Chef geschrieben: ‚Obwohl Sie eine Frau sind, haben Sie hervorragende Arbeit geleistet‘“, lacht sie.

Neu in der Stadt Immer mehr internationale Zuzügler sind in den vergangenen Jahren nach Berlin gekommen. Sei es, weil die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen in ihren Heimatländern nicht mehr stimmen, sei es, weil sie beruflich oder privat an der Spree neu durchstarten wollen.

Die Serie Was suchen und was finden sie in Berlin? Einmal im Monat hat unsere Autorin Henriette Harris, die 2004 selbst aus Kopenhagen nach Berlin kam, an dieser Stelle die Neuankömmlinge beispielhaft vorgestellt. Mit dem zwölften Teil findet nun die Serie ihren Abschluss.

Nach der Geburt ihrer Kinder hat Heike Keidies-Benkert als Produktionsassistentin bei der Neuen Filmproduktion gearbeitet. Die Freude am Film hat sie weitergegeben, ihr Sohn Boris ist Regisseur. „Ich hätte wahrscheinlich da Karriere machen können, aber damals war es unmöglich, wenn man kleine Kinder hatte. Sie waren meine Sache, und mir wurde klar, dass, wenn ich die Kinder großziehen wollte, dieser Beruf nicht ging. Dann habe ich, so wie es sich meine Mutter gewünscht hatte, angefangen nebenbei Lehramt zu studieren. Dann kam das Angebot, nach Frankfurt zu gehen, und das letzte Examen habe ich dort gemacht“, erzählt Heike Keidies-Benkert.

Hinter uns ist ein Teich mit weißen Seerosen und frühlingsverliebten Fröschen, die unser Gespräch mit ihrem Quaken begleiten. Plötzlich hört Heike Keidies-Benkert auf zu reden. „Guck mal, da ist ein Fuchs!“, ruft sie. Ein schmaler Fuchs mit hängendem Schwanz läuft am Teich vorbei. „Meine Kinder waren dann schon größer, ich hatte mehr Zeit fürs Arbeiten und ich konnte an allen vorbeimarschieren. Ich wurde Lehrerin, meine Fächer waren Deutsch und Kunst, dann Ausbilderin von Lehrern, dann Schulamtsdirektorin, dann Direktorin am Amt für Lehrerbildung in Hessen und dann leitende Direktorin am Amt für Lehrerbildung. Ich habe von 1968 und den Möglichkeiten, die Frauen bekommen haben, sehr profitiert. Jeder Studiengang stand mir offen. Aber heutzutage? Dieser verrückte Notendurchschnitt für viele Studiengänge wie zum Beispiel das Lehramt – es ist eine Katastrophe. Einser-Schüler können vieles, aber für Berufe, wo man mit Menschen zu tun hat, sind sie oft nicht geeignet“, meint sie.

Als Heike Keidies-Benkert in ihren Fünfzigern war, wurde sie, die 18 Jahre lang ohne einen Fehltag gearbeitet hatte, von einer Reihe ernsthafter Krankheiten betroffen. Sie hat sie alle, eine nach der anderen, überwunden. „Mein Mann hat damals gesagt: ‚Die da oben wollen dich noch nicht. Du bist zu frech‘“, sagt sie.

Die Frechheit hat sie schon früh gelernt. Ab 1957 hörte sie regelmäßig „Die Insulaner“, die Kabarettsendung von Günter Neumann, im Rias. „Mich muss es sehr geprägt haben. Ich hatte immer das Gefühl, dass Berlinerin zu sein etwas Besonderes ist. Ich bin mit dem Gefühl aufgewachsen: Wir schaffen es. Wir überleben auf der Insel. Ich war immer stolz, Berlinerin zu sein. Und mir war immer klar: Irgendwann gehe ich zurück nach Berlin“, sagt Heike Keidies-Benkert.

Der Anlass kam 2010. Der damals 14-jährige Enkelsohn, der jetzt Vater geworden ist, war ein bisschen unruhig zu Hause und in der Schule, und seine Großmutter hat entschieden, ihn mit nach Berlin zu nehmen. „Es war eine schnelle Entscheidung. Wir waren zu Besuch in Berlin und saßen in einem Café, wo wir zum Haus meiner Kindheit schauen konnten. Ich habe bemerkt, dass es in der Wohnung unter der alten Wohnung meiner Eltern in Neu-Westend keine Vorhänge gab. Sie war leer. Da wohnen wir jetzt“, erzählt sie. Der Kreis hatte sich geschlossen, obwohl der Enkelsohn schon nach einem halben Jahr zurück zu seiner Mutter in Frankfurt fuhr. Aber immerhin hat sie auch ihren Sohn und seine zwei Töchter hier.

„Ich war wohl zu streng mit meinem Enkelsohn. Aber eigentlich wollen die jungen Leute in Berlin sein. Ich habe nur das Gefühl, dass Berlin immer schlecht gemacht wird. ‚Das können wir nicht und das können wir nicht in Berlin‘, heißt es immer. Die Leute denken dabei an den Flughafen und an den Nahverkehr. Aber ohne Bestätigung wird man nicht gut“, sagt die pensionierte Lehrerin. „Wir müssen unseren Stolz, Berliner zu sein, wiedergewinnen. In Hessen sagen alle immer: ‚Oh, es ist so toll in Berlin!‘“

Heike Keidies-Benkert lacht, kommentiert die Pflanzen und ist vollkommen uneitel

Sie genießt die kulturellen Angebote in Berlin sehr. „Zum Beispiel die Museumsnacht. Da kann Frankfurt sich gar nicht mit Berlin vergleichen. Oder das Georg Kolbe Museum. Da im Garten zu sitzen und Kaffee zu trinken: Ich liebe es. Mit der neuen Leiterin haben sie wirklich einen Glücksgriff gemacht. Der Martin-Gropius-Bau ist natürlich auch vom Bau her wunderbar, und dann werde ich mit Tränen in den Augen Abschied vom Theater am Kurfürstendamm nehmen. Ein Kabarettkind bin ich. Alle zwei Wochen muss ich zu den ‚Wühlmäusen‘. Und dann gehe ich wahnsinnig gerne ins Kino und lasse mich in eine andere Welt abtauchen. Meine Lieblingskinos sind Delphi und Cinema Paris am Kurfürstendamm. Da habe ich einen Nachhilfekurs in französischer Konversation vor dem Abitur gemacht. Wir haben viel davon profitiert, dass die Besatzer hier waren. Im Hof habe ich mit englischen Kindern gespielt und Englisch gesprochen“, erzählt sie.

Wieder spielt sich etwas hinter meinem Rücken ab. „Da marschiert eine im Bikini!“, bemerkt Heike Keidies-Benkert über eine Frau, die auf der Straße Richtung Ausgang im weißen Zweiteiler geht. „Der Botanische Garten wird einer meiner neuen Lieblingsorte. Ich muss hierher mit meinem Mann“, sagt sie.

Dass so viele Ausländer den Weg nach Berlin finden, freut sie sehr. Hat sie je bereut, zurückgegangen zu sein? Und was sagt ihr Mann, der Bayer? „Nein, nein, nie. Mein Mann hat zu mir gesagt: ‚Du bist mir zuliebe mit nach Frankfurt gegangen. Jetzt gehe ich mit dir nach Berlin‘. Und wir gehen nie wieder weg. Mein Mann sagt: ‚Wir haben unten im Haus den besten Italiener, die beste Kneipe, wo ich Fußball schauen kann, den besten Bäcker und Lebensmittelladen. Was brauche ich sonst?‘ Er ist ein überzeugter Berliner geworden“, lächelt Heike Keidies-Benkert.

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