Millionen kleiner Guillaume

ZWISCHEN OST UND WEST Am Deutschen Theater erzählt „Demokratie“ von der Affaire Guillaume. Eigentlich war der Spion ein Vorläufer einer später geforderten Anpassung

In Stuttgart meinte 1980 ein Mann zu mir: „Mein Sohn ist arbeitslos und Willy Brandt lässt sich scheiden. Denk mal drüber nach.“ Das Stück „Demokratie“ von Jürgen Kuttner und Tom Kühnel, das Ende September Premiere am Deutschen Theater hatte, dreht sich um die „Guillaume-Affäre“. Das mit damals beliebten BRD- und DDR-Schlagern (von Hildegard Knef, Udo Jürgens, Jessica, Reinhard Mey, Ina Deter) bestückte Politdrama handelt vom Rücktritt Willy Brandts, nachdem man 1974 den „Kanzlerspion“ der DDR Günter Guillaume enttarnt hatte.

„Demokratie“ beginnt im Ministerium für Staatssicherheit mit der Einweisung des Kundschafters Guillaume. Schon diese Szene hat Musik. Sie stammt von der Stasi-LP: „Helden der unsichtbaren Front“. Der Text geht so: „Damals: Bruch mit allen und jedem. Der Auftrag. Danach: lernen lernen, reden wie sie lernen, aussehn wie sie lernen, denken wie sie lernen, sich zeigen wie sie und immer sein wie wir! Die Arbeit: verstellen, verstecken, erkunden, übermitteln, täuschen und schweigen. Der Lohn: Jahre Frieden.“

Der Offizier im Besonderen Einsatz – Genosse Guillaume – tritt in die Westberliner SPD ein, Brandt ist Regierender Bürgermeister der Frontstadt. Guillaume lernt, lernt, lernt. Lifelong Learning. Brandt – „für mich soll’s rote Rosen regnen“ singt er playback beim ersten Auftritt – macht Karriere, wird schließlich Bundeskanzler in Bonn – und Guillaume quasi mit ihm – als „persönlicher Referent“.

Jürgen Kuttner, der selbst mitspielt und kommentiert, hat sich Sebastian Haffners Sichtweise auf die „Bonner Republik“ zu eigen gemacht: Es gibt dort keine „Politdramen“ mehr – das ist das Drama. Was im Übrigen auch schon der o. e. Schwabe bedauert hatte, der auf Brandts Scheidung verwies. Auch Guillaume ließ sich später von seiner Frau scheiden, die als Aufklärerin in der hessischen SPD wirkte.

Die beiden hatten ein Kind zusammen: Pierre. Als seine Eltern aus dem Gefängnis entlassen wurden, ging er mit ihnen zurück in die DDR, wo man ihm 1988 die Ausreise in die BRD genehmigte. Anders der Sohn von Willy Brandt Matthias, der als Schauspieler die DDR erst nach ihrem Verschwinden kennenlernte. Er und Guillaumes Sohn Pierre traten 2005 in dem Dokumentarfilm „Schattenväter“ auf. Günter Guillaume hatte dreißig Jahre zuvor einem Film über sich, den Günter Karau gedreht hatte, den Titel „Auftrag erfüllt“ gegeben. Sein einstiger Führungsoffizier in Bonn, Dr. Kurt Gailat, würdigte zuletzt die Spionageleistung von Pierres Mutter Christel Boom in einem langen Nachruf, nachdem sie 2004 gestorben war. Als persönliche Referentin eines SPD-Funktionärs musste Christel ebenso wie ihr Mann Günter, der Willy Brandt „ein hohes Maß an Achtung entgegenbrachte, mit einer doppelten Loyalität leben und fertigwerden“. Ihr Sohn Pierre sagte es im Film „Schattenväter“ so: „Ich habe bis heute das Problem, dass ich in der Erinnerung verschiedene Väter habe …“

Man kann sich noch erinnern, dass gleich im Anschluss an einen kurzen Aufstand und nachdem die BRD die DDR übernommen und mitsamt ihrer Wirtschaftsordnung abgewickelt hatte, eine gigantische Umerziehungs- und Weiterbildungs-Welle über Ostelbien rollte: „Sie müssen lernen, sich besser zu verkaufen!“ wurde Millionen arbeitslosen Ostlern von „Trainern“ aus dem Westen verklickert.

Nun zeigt eine sächsische Langzeitstudie, „dass sich die Befragten umso ostdeutscher fühlen, je länger die DDR vorbei ist“. Im Übrigen leiden immer mehr unter „posttraumatischen Belastungsstörungen“ – die psychotherapeutischen Beratungsstellen sind überlaufen. Allein in dem arbeitsplatzverlassenen Grenzstädtchen Zittau offerieren acht Praxen Hilfe bei „Burn-out“-Syndromen.

Mit der Wiedervereinigung hat die Bundesrepublik sich 18 Millionen kleine Guillaumes geschaffen. Ihr Auftrag: im menschenfeindlichen Westen trotzdem überleben! Der Lohn: Jahre Frieden. Insofern erzählt „Demokratie“ nicht nur über ein alte Affaire, sondern auch über die Gegenwart. HELMUT HÖGE

■ „Demokratie“ läuft im DT wieder am 25. Oktober, 10., 16. + 28. November, 31. Dezember