Ausgehen und rumstehen
: Umarmt, gebissen und geschlagen

Esther wusste genau, was sie erwartete. Die Gängelung durch ihre Fomo, ihre Fear of missing out, war ihr wohlbekannt. Wie oft hatte sie es geschafft, an einem Wochenende quasi überall gewesen zu sein. Dort war es dann immer so gewesen, wie sie es erwartet hatte. Sie wusste auch, dass sie, sollte sie es nicht geschafft haben, überall gewesen zu sein, nicht unglücklich gewesen war, weil sie sich gut vorstellen konnte, wie es an all diesen Orten wohl gewesen sein dürfte und was sie dort wohl nicht erlebt haben würde. Dass es also vollkommen gleichgültig sein würde, ob sie an diesem Samstag statt auf das Torstraßen-Festival auf die Marx-Konferenz im Literaturhaus, zu den Autorentheatertagen im Deutschen Theater, auf ein Konzert im Futurium, zu einem der Workshops der Ausstellung „Welt ohne Außen“ im Gropius-Bau oder auf die Eröffnung der Biennale gehen würde.

Trotzdem grassierte eine Unruhe in ihr. Es wäre wohl besser, sie würde jetzt losziehen und brav – denn ihr Verhalten hatte etwas von sanft zwanghafter Folgsamkeit – dem Impuls nachzugeben, welcher ihr jedes Mal ein Stück Willen zum Leben herausbiss.

Am Mehringplatz lief sie in eine kleine Demonstration einer AfD-Frauenorganisation – ein Pulk großer, geschwungener Deutschlandfahnen, eingebettet in das Rondell des dortigen Wohnkomplexes. Es waren vielleicht 150 Männer und 60 Frauen. Immer wieder wurden Menschen von der die Demonstranten abschirmenden Polizei zur Demonstration durchgelassen. Esther fragte sich, warum es gerade die waren, die zur Demonstration eingelassen wurden, und warum wieder andere weggeschickt wurden.

Vor der Philharmonie traf sie auf eine Stadtführung. Deren Teilnehmer bekamen von einem aalglatten, in hochgeschlossenem Fred-Perry-Shirt posierenden amerikanischen Jüngling in Action-Movie-Manier eine Nazi-Hinrichtung an ebendiesem Ort geschildert.

Der Touristenführer begrüßte Esther gereizt, als sei sie gerade in die Sitzung eines Geheimbundes eingedrungen. Er klärte seine Gruppe darüber auf, nichts gegen ihre Anwesenheit unternehmen zu können, weil sie ja im öffentlichen Raum seien, woraufhin Esther, wie eine Selbstmordattentäterin beäugt, davonschlich.

Etwas später gefiel ihr ein Messer im Messerkorb eines ­libanesischen Restaurants, bei dem sie Hummus aß. Der Griff des Messers, dessen Klinge in Servietten eingewickelt war, stand von nun an aus ihrer ­Hosentasche. Sie schämte sich, gestohlen zu haben, sie schämte sich, bewaffnet zu sein, wo sie sich doch in dieser Stadt, in der die Leute immer harmloser ­wurden, immer sicherer fühlte.

Auf der Straße sah sie eine Frau, die ihre Tasche, sich wie ein Derwisch drehend, in eine Gruppe glotzender Leute ­schleuderte und danach brüllend zu Boden stürzte. Nach einigen Momenten des kollektiven Schocks schritt eine Frau auf sie zu. Sie nahm die Hand, die ihr die Frau laut weinend entgegenstreckte, und half ihr auf. Sie wurde sogleich, verblüfft und überrumpelt, erst von der Frau heftig umarmt und dann aus der Umarmung herausgebissen und geschlagen. Ein entsetztes Raunen ging durch das Publikum.

Bald mussten Menschen der rasenden Frau wie aufgescheuchte Tiere ausweichen. Am Ende stürzten sich etliche, inzwischen herbeigeeilte Polizisten auf die Frau, die sich inzwischen in einem eingetroffenen Krankenwagen verschanzt hatte.

Esther floh nach Hause. Es war Nacht geworden. Großgütige Scheiße, dachte Esther, wie glücklich sie war, nichts verpasst zu haben, nichts für ihre Unterhaltung, aber was gegen ihre Angst getan zu haben.