: Aufschrei gegen eine Wirklichkeit
„Winterreise“ bei den Wiener Festwochen: Kornél Mundruczó folgt Franz Schubert auf der Balkanroute – Romantik als Protest
Von Uwe Mattheiß
Die „Winterreise“ (1827) op. 89 von Franz Schubert ist eine Wiener Obsession, zumindest eine der Wiener Festwochen. Nach 2014 in der Fassung mit dem Bariton Matthias Goerne und dem Pianisten, dem damaligen Festwochenchef und heutigen Intendanten der Salzburger Festspiele, Markus Hinterhäuser, hat Tomas Zierhofer-Kin, in Wien dessen direkter Nachfolger, den Liederzyklus in diesem Jahr gleich noch einmal programmiert.
Nicht nur die zeitnahe Setzung zweier Interpretationen macht die „Winterreise“ zum Selbstvergewisserungsprojekt, zum ästhetischen wie kulturpolitischen Lackmustest über Zweck und Aufgaben großer, repräsentativer Kunstfestivals. Die Rechtfertigungslehren, die die beiden Aufführungen verkünden, sind denkbar verschieden. Die frühere Version Hinterhäusers bot gediegene Aufführungspraxis auf höchstem interpretatorischen Niveau, die in der visuellen Erweiterung des Bühnengeschehens durch den südafrikanischen bildenden Künstler William Kentridge eine zusätzliche Ebene zur Reflexion zeitgenössischer Erfahrung in sich aufgenommen hatte.
Das aktuelle Projekt des ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó im provisorisch adaptierten Backsteinbau einer früheren Lagerhalle der Österreichischen Bundesbahnen ist der unvermittelte Aufschrei gegen eine schlechte Wirklichkeit, vor der die an der Romantik geschulte Empfindsamkeit sich nicht mehr in das Idyll zurückziehen kann.
Mundruczós Theaterarbeiten, in der Vergangenheit mehrfach zu Gast auch bei den Wiener Festwochen, würde man auf den ersten Blick nicht mit der zarten Poesie der „Winterreise“ in Verbindung bringen. Sie sind vielfach von einem berserkerhaften Überrealismus, der auch den Zuschauenden vor der Erkenntnis den Schmerz abverlangt. Sein Anspruch, die Welt ungeschützt sinnlich zu erfahren, bevor man sie erklärt, die Weigerung, sich mit zynischen Wissen gegen ihre Zumutungen zu immunisieren, bringt ihn dann doch auf der zweiten Ebene in die Nähe der Romantik.
Die Verse der von Schubert vertonten 24 Gedichte Wilhelm Müllers (1794–1827) nimmt er ganz buchstäblich. Das „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ führt ihn auf den Pfad der Flüchtenden entlang der sogenannten Balkanroute, deren Schließung die populistischen Krisengewinnler Europas sich unentwegt rühmen. Auch hier wieder eine szenische Öffnung durch eine zusätzliche visuelle Ebene: Zäune und verschlossene Tore in der ungarischen Provinz, Videostills der ausdruckslosen Gesichter von Erschöpften, verkotete Toilettenanlagen in überfüllten Unterkünften. Das letzte lyrische Ich ist mutmaßlich im Spätsommer 2012 vor Lampedusa ertrunken. Die Frage, die Mundruczó umtreibt, ist die, wie man diese Verse singen kann, ohne zu lügen. Lässt sich Schönheit subversiv einsetzen? Die Kunst wäre davor bewahrt, in naher Zukunft nur noch hübsche Zierleistenmalerei zu sein.
Die spannendsten Bewegungen geschehen allerdings auf der musikalischen Ebene. Die Aufführung wählt die „komponierte Interpretation“ (1993) von Hans Zender. Diese Fassung der „Winterreise“ für ein kleineres Orchester gibt dem vor bedrückenden persönlichen und politischen Umständen weltfliehenden Schubert ein Stück weit Gesellschaft zurück. Zenders Auseinandersetzung wahrt die Höhe der Form Schuberts und denkt trotzdem die musikalische Praxis nach ihm mit. Seine „komponierende Interpretation“ ist einer der seltenen Fälle, die die Metaphysik der Kunst tatsächlich umzustürzen versteht: die strikte Trennung zwischen schöpferischem Genie und virtuoser Interpretation.
Polemischer Spielmodus
Die Überraschung der Aufführung ist die Stimme. Der 36-jährige ungarische Schauspieler János Szemenyei, kein Sängerfürst, arbeitet sich wach und präzise durch die Höhen und Klippen der fremden Sprache und zuerst noch fremden Musik. Das zeigt einen begeisternden Aneignungsprozess, der gelingt und trotzdem als solcher erkennbar bleibt. Der schmale Pfad zur Wirklichkeit der Kunst führt durch die Anstrengungen zur Bewältigung der Form hindurch.
Von den theatralisierenden Kontexten, in denen ihn sein Regisseur hineinschickt, lässt sich das weniger sagen. Schien die Gegenüberstellung der Lebenswelt Flüchtender und der Musik Schuberts zunächst noch eine neue Sicht in beide Richtungen freizulegen, verfängt sich Mundruczó in einem trivialen wie polemischem Spielmodus, der mit Schauspieler auf der Bühne und Flüchtenden in der Projektion die Stereotypen schlechter Wirklichkeit nachahmt. Wut formt platte Bilder. Letztlich formuliert Mundruczó den ohnmächtigen Protest eines konservativen Humanismus. Verhältnisse, in denen Mensch (wieder) werden kann, sind erst noch zu denken. Kunst wäre bitter notwendig.
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