Kito Nedoschaut sich in Berlins Galerien um:
Würden die zärtlichen Cyborgs aus Chris Cunninghams berühmtem Björk-Video Kunst produzieren – sie müsste vermutlich so ähnlich aussehen wie Carsten Nicolais Gemälde bei Eigen + Art. Dick wie Mascarpone hat der Musiker und Künstler das traditionelle Grundiermittel Gesso auf kleinformatige Leinwände gestrichen, geglättet und anschließend mit Präzisionswerkzeug filigran schwingende Funktionsgraphen in die Oberfläche geritzt. Nicolai beruft sich auf die Arbeit von Astronomen wie Carl Friedrich Gauß oder den französischen Physiker Jules Antoine Lissajous. Beim Betrachten denkt man aber weniger an den Geometrieunterricht, sondern vielmehr an das zeitlose Cover-Artwork, welches der Gestalter Peter Saville Ende der Siebziger für das Debütalbum von Joy Division entwarf. Dessen Grundlage war eine Illustration elektromagnetischer Wellen aus dem Kosmos, welche die Band von Ian Curtis damals in einem astronomischen Wörterbuch gefunden hatte (bis 7. 7., Di–Sa 11–18, Auguststr. 26).
Früher schwang im Begriff der Lounge etwas Genießerisches und Lässiges mit. Heute sind die sogenannten Raucherlounges auf Flughäfen wohl die traurigsten Orte der Welt: vollverglaste Bereiche, in denen Rauchende versammelt unter einer Ablufthaube stehen. Ganz mondän hingegen erscheint da die große, sich räkelnde Zigarettenfigur aus lackiertem Stahl, die Wilhelm Klotzek auf Einladung des Kurators Andreas Prinzing in der Vitrine vor dem Rathaus Tiergarten installiert hat. Sie scheint die vorbeieilenden Passanten an die fast vergessenen Wonnen des Müßiggangs erinnern zu wollen: „Guter Überblick auf Passanten und Trottoir“ lautet der Titel dieser Installation (bis 31. 6., Tag und Nacht, Mathilde-Jacob-Platz 1).
Berühmt wurde der französische Psychoanalytiker Didier Anzieu unter anderem durch seine Theorie vom Haut-Ich. Mit diesem Konzept lässt sich die Persönlichkeitsformung bei Babys durch Berührungserfahrungen beschreiben. In ihrer gleichnamigen Ausstellung bei Barbara Wien bringt die Künstlerin Mariana Castillo Deball Anzieus Theoriebild mit einer alten aztekischen Technik der Zeit-Raum-Messung in Beziehung: Der tōnalpōhualli war ein kosmischer 260-Tage-Kalender, der über die Messung der Zeit hinausging und auch in der Landwirtschaft oder in rituellen Opferhandlungen bedeutsam war. Bei den Opferriten spielte wiederum die Haut eine Rolle: Im Kalender wird die Frühlingsgottheit Xipe Totec oft als Mann dargestellt, der die abgezogene Haut eines anderen über der eigenen trägt (bis 28. 7., Di–Fr 13–18, Sa 12–18, Schöneberger Ufer 65).
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