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Isolde Charim Knapp überm BoulevardEinzig die Royals scheinen die Fahne der Liberalisierung noch hochzuhalten

Der Politologe Ivan Krastev hat das leidenschaftslose Gedenken zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution mit den vehementen Debatten, die den 50. Jahrestag von 1968 begleiten, verglichen. Die Heftigkeit von Emotionen aber ist immer ein Indikator dafür, dass ein gesellschaftlich neuralgischer Punkt vorliegt. Wenn man also davon ausgeht, dass 68 für uns heute solch ein symptomatisches Ereignis war und 68 vor allem als Liberalisierung gewertet wird – Liberalisierung der moralischen Normen, der Autoritäts-, der Geschlechter-, der gesellschaftlichen Verhältnisse – dann stellt sich die Frage: Welchen Stellenwert hat diese Liberalisierung heute? Die Antwort ist durchaus ambivalent.

Einerseits wird diese uneingeschränkt positiv gesehen – als Befreiung von Zwängen und Normen. Zuletzt war das ein Thema beim „Royal Wedding“. Von Edward und Wallis Simpson bis hin zu Prinz Charles und Camilla – immer standen strikte Normen der Liebe entgegen. Nun aber wurde eine geschiedene Schauspielerin mit schwarzer Mutter nicht nur akzeptiert, sondern bejubelt. Mit einer deutlichen Verzögerung hat die gesellschaftliche Liberalisierung nun also sogar in diese Hochburg des Konservatismus Einzug gehalten. Sie hat das verknöcherte, steife System der Royals verändert, dessen einzige Daseinsberechtigung darin besteht, eine Tradition – auch wenn sie längst zur Folklore verkommen sein mag – aufrechtzuerhalten. Eine Veränderung, von der man nicht weiß, ob sie die Tradition stärkt (weil sie sie flexibler macht) oder ob sie die Tradition untergräbt (weil diese von ihrer Starrheit lebt). Allseits aber wird diese Liberalisierung als Fortschritt, Befreiung, Vermenschlichung begrüßt.

Gleichzeitig aber wird von unterschiedlichster Seite die Frage aufgeworfen, ob solche Liberalisierung, ob das Erbe von 68 nicht gänzlich negativ sei.

Da sind zu einen die Populisten, die ihr Projekt sehr klar als offensiven Gegenentwurf, ja als Anti-68-Mission deklarieren. Als Rückbau also von allem, was als 68er-Errungenschaft gilt. Dazu gehört vor allem die Veränderung im Geschlechterverhältnis, die Liberalisierung der sexuellen Ordnung – insbesondere das Fluidwerden sexueller Kategorien und Orientierungen. Dazu gehört aber auch ganz wesentlich der gesellschaftliche Perspektivenwechsel – von einer heroischen Nationalerzählung hin zur Ermächtigung der Opfer (aller Art von Opfern).

Da sind aber auch die Katholiken, für die die Liberalisierung dazu beigetragen hat, die demokratische Gesellschaft auf das zu reduzieren, was sie immer schon darunter verstanden haben – eine reine Verfahrensordnung ohne innere Kraft, eine leere, sittlichkeitsvergessene Gesellschaft, die sich in Hedonismus und Konsumismus ergeht. Liberalisierung als Nihilismuskampagne, die eine spirituell substanzlose Gesellschaft generiert hat.

Eine Gesellschaft, die nur von Voraussetzung lebt, die sie selbst garantieren kann. Eben. Die Liberalisierung habe in einer geistigen Sackgasse gemündet, die die Gesellschaft zersetzt. Zu deren Rettung müssen nun folgerichtig die spirituellen Entsatzheere der Religion antreten, um der hohlen Mumie der demokratischen Gesellschaft vor ihrem völligen Zerfall noch einmal geistiges Leben einzuhauchen.

Zu dieser Riege selbsternannter Kämpfer gegen das 68er-Erbe kommt noch eine weitere Fraktion hinzu: die wissenschaftliche. So hat der Psychiater Raphael Bornelli kürzlich die Liberalisierung der 68er auf eine „narzisstische Kulturrevolution“ reduziert. Deren sexuelle Selbstverwirklichung sei nichts als eine „apersonale Geilheit“ ohne Bindungsfähigkeit. Eine psychische Sackgasse, aus der erst die Kinder und Enkel der 68er herausfänden. Mit ihrer Sehnsucht nach Monogamie und Kleinfamilie.

Wenn man das ganze Spektrum in Betracht zieht, das sich im Kreuzzug gegen das 68er-Erbe befindet, dann zeigt sich: Die gesellschaftliche Liberalisierung, die doch eine große Befreiung sein sollte, wird von sehr vielen, sehr unterschiedlichen Seiten abgewehrt. Einzig die ­Royals scheinen deren Fahne noch hochzuhalten.

Isolde Charim ist freie Publizistin in Wien.

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