der rote faden: Von der Jogginghose und der Kontrolle über das Leben
Durch die Woche mit Robert Misik
Der schrille Schneider Karl Lagerfeld sagte unlängst einem französischen Blatt: „Ich hasse Merkel.“ Irgendwie für ihre Flüchtlingspolitik, aber vor allem, weil diese Flüchtlingspolitik Nazis in Parlamente gebracht hätte. Vielleicht hasst er ja die Nazis und die Anti-Nazis, was weiß man. Wenn man Freude am Hassen hat, dann umso besser, wenn man eine ganze Armada an Hassobjekten hat. Schnell wurde herausgefunden, dass es derselbe Lagerfeld war, der einmal sagte: „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“
Spiegel-Kollege Hasnain Kazim stichelte daraufhin auf Twitter: „Wenn ein Modemacher anfängt, dummes Zeug über Dinge zu reden, von denen er nichts versteht, hat er die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Da ich die Eigenart habe, bei solchen Debatten schnell von der Hauptsache zu den Nebentönen abzuschweifen, begann ich mir sofort Gedanken über diese seltsame Wendung zu machen: „… die Kontrolle über das eigene Leben verloren.“ Wie kommt es, dass die Wendung zur Verächtlichmachung taugt?
Das Sprachbild vom Kontrollverlust geistert ja durch viele Debatten. Im neoliberalen Kapitalismus, in dem stets alles auf Messers Schneide steht, in dem man nie langfristig auf etwas bauen kann, in dem Karrieren, Jobprofile, Arbeitsstellen, Mietverträge und Lebenspartnerschaften stets nur befristet und mit Ablaufdatum (aber eben keinem exakten) versehen sind, empfinden die Menschen Kontrollverlust. Auch an der „Flüchtlingswelle“ haben viele Menschen, so wird jedenfalls behauptet, vor allem die Bilder vom „Kontrollverlust“ als verstörend erlebt. Und die Brexit-Befürworter in Großbritannien gewannen ihre Kampagne mit der Parole, es gelte „die Kontrolle zurückzugewinnen“. Soll heißen: Statt Spielball supranationaler Kräfte und undurchschaubarer Institutionengeflechte zu sein, soll wieder nationalstaatliche Kontrolle zurückgewonnen werden. In einer zunehmend unkontrollierbaren Lebenswelt die Kontrolle zu behalten oder zurückzugewinnen – das scheint gerade ein Thema zu sein.
Nun stellt sich natürlich die Frage, was das überhaupt sein soll: „Kontrolle.“ Völlige Kontrolle haben wir nie und hatten die Menschen auch nie. Selbst wer im scheinbar stabilen Wohlstand lebt, der hat das Wissen darüber (ein Wissen, das wir natürlich gerne verdrängen), dass das Unwägbare jederzeit in die Stabilität einbrechen kann. Trennung, Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, eine Feuersbrunst, ein Autounfall, irgendetwas, was uns aus der Bahn wirft. Aber der Verdacht, dass alles nur auf Messers Schneide steht, scheint dennoch heute mehr zu grassieren, sich in das Leben vieler hineinzufressen.
Auf der Mikroebene des persönlichen Lebens, aber auch auf der Makroebene der „Weltrisikogesellschaft“, und die verschiedenen Sphären der Kontrollverlusts-Diagnose scheinen sich gegenseitig aufzuschaukeln. Globalisierung heißt auch, dass die Welt als Netzwerk von Kräften wahrgenommen wird, als Kraftfeld, in dem unzählige Vektoren wirken, die schlichtweg niemand unter Kontrolle haben kann. Die Kontrollfantasie, die man im Nationalstaat noch haben konnte, erscheint auf globaler Ebene nur mehr als irreale Wahnidee. Die schwindende Kontrolle, die man über die eigenen Lebenspraxen empfindet, und die schwindende Kontrolle, die man den politischen Eliten attestiert, kumulieren zu einer Art Gesamtpanorama.
Die Geschichte der Menschheit ist sowieso auch die Geschichte des Versuchs, die Risiken zu kontrollieren. Ganze Wirtschaftszweige verdanken dem Bedürfnis nach Sicherheit ihre Existenz – allen voran die Versicherungswirtschaft.
So gesehen ist es geradezu bizarr, dass wir zugleich das permanente Hohelied auf die Beweglichkeit singen, jene preisen, die die Pfade des Gewohnten verlassen und Risiken eingehen. Denn natürlich sind wir dafür nicht gemacht: Radikale Unsicherheit lähmt, erst die relative Kontrolle erlaubt, kalkulierbare Wagnisse einzugehen.
Aber Sicherheit und „Kontrolle über das eigene Leben“ sind nicht identisch. Forscher wissen, dass Menschen dann so etwas wie Glück oder Zufriedenheit empfinden, wenn sie das Gefühl haben, bestimmenden Einfluss auf wesentliche Stützen ihres Lebens nehmen zu können. Etwa am Arbeitsplatz: Wer nur einem Kommando von Befehl und Gehorsam unterworfen ist, sich nur als Rädchen in einem Räderwerk empfindet, wird unglücklich. Wer das Gefühl hat, zumindest zu einem gewissen Grad bestimmend eingreifen zu können, ist zufriedener.
All das ist sowieso immer in prekärer Balance: Seit Freud wissen wir, dass wir nicht einmal die Kontrolle über unser Innerstes haben, unser Unbewusstes, unsere Neurosen, unseren emotionalen Stil. Freuds Erkenntnis, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, ist ja vielleicht die größte narzisstische Kränkung der Neuzeit.
Nächste WocheKlaus Raab
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