Politische Macht und große Gefühle

Fest der Sinne mit Mozarts „Mitridate“ beim Bremer Musikfest rührt Manchen zu Tränen

bremen taz ■ Mit Sicherheit ist die kleine Aufführungsserie von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Mitridate, Re di Ponto“ die Sensation des diesjährigen Musikfestes – und das in mehrfacher Hinsicht. Einmal ist es dem Intendanten Thomas Albert gelungen, in einer Kooperation mit den Salzburger Festspielen eine ganze Inszenierung nach Bremen zu transportieren. Und zum anderen hat die musikalische Wiedergabe durch die „Musiciens du Louvre“ und geradezu traumhafte SolistInnen unter der Leitung von Marc Minkowski ein derart hohes Niveau, dass der Zuhörer angehalten ist, mögliche Meinungen über den frühen Mozart noch einmal gründlich zu überdenken.

Die Story vom Despoten Mitridate, der 63 v.Chr. seinem kriegerischen und privaten Wüten gegenüber seinen beiden rivalisierenden Söhnen Farnace und Sifare Reue und Selbstmord folgen lässt, präsentiert der Regisseur Günter Krämer in kühler, designhafter Schönheit vor einer Wand mit drehbaren Türen. Ein mächtiger schräger Spiegel darüber erlaubt unglaubliche Effekte. Genau so werden in zeitlosen Kostümen krasse Affekte ausgespielt. Der Spielort – das BLG Forum Überseestadt fordert mit unerwartet glänzender Akustik Wiederholungen.

Doch das eigentliche Wunder dieses Abends ist die Kunst des 14-jährigen Mozart. Für den Auftrag des Teatro Regio Ducale in Mailand hatte der Junge nach einem Drama von Jean Racine zum ersten Mal eine „opera seria“ geschrieben: Für jeden Affekt gibt es Arien. Und da kann der Komponist handwerklich aus dem Vollen schöpfen, erreicht aber auch eine erschütternde Tiefendimension, die den Hörer fragen lässt, wie man so etwas ohne die entsprechenden Lebenserfahrungen überhaupt schreiben kann. Gleich, ob es sich bei den stets und atemlos stürmischen Gefühlen um Macht, Eifersucht, Verzweiflung, Angst, grenzenlose Einsamkeit oder Todesvisionen handelt.

Nicht weniger Zuschauer erzählen nach Ende der Aufführung, es habe ihnen die Tränen in die Augen getrieben. Dazu trugen sie alle bei: Netta Or als gifttrinkende Mitridate-Verlobte Aspasia, der Countertenor Bejun Metha als Farnace mit seiner aufklärerischen Einsicht, dass Vernunft Recht und Ehre retten muss, Miah Persson als Sifare in einer Abschiedsarie mit konzertierendem Solohorn, in der sie tragfähige Pianotöne ohnegleichen erklingen lässt. Dazu Richard Croft als verrückt-wirrer Despot mit schwindelerregenden Tenorhöhen.

In den späteren Opern, besonders den da Ponte-Opern, wird Mozart das Ensemble beispielgebend und nie wieder eingeholt entwickeln. Die Tiefenschärfe, die er dort in den einzelnen seelischen Affekten erreicht, werden später kaum noch besser. Das zu erkennen und zu erleben, ist neben den SängerInnen diesem unerhört guten Orchester und Minkowski zu danken. Stehende Ovationen. Ute Schalz-Laurenzen