Martin Reichert
Herbstzeitlos
: Barfuß bei Mireille Mathieu

Ich habe dich gesehen“, sagte ein Kollege, „ich habe dich gesehen, vor dem Friedrichstadtpalast.“ Der Ton, in dem er das gesagt hatte, sprach eher dafür, dass er mich beim Besuch eines illegalen Hahnenkampfs erwischt hatte oder – schlimmer – beim Parken auf dem Fahrradweg. In Wirklichkeit hatte er mich beim Besuch eines Mireille-Mathieu-Konzerts gesehen.

Tatsächlich war es ein Ausflug in ein anderes Sonnensystem. Schon einmal hatte ich die Dame gesehen, auf Einladung eines Freundes, der seit Kindertagen ein glühender Verehrer der Chanteuse ist, und zwar in Bukarest. Mireille Mathieu in Bukarest, das ist ja mindestens wie Milva in Belgrad, und gerade als schwuler Mann kann man da eigentlich kaum noch „Nein“ sagen.

Also dieses Mal Friedrichstadtpalast, ehemals größter Kulturpalast der DDR mit Weltniveau und jetzt Berlins erfolgreichste Eventbude, beliebt vor allem bei Touristen. Mireille Mathieu aber hatte ein Heimspiel an diesem Abend, denn es kamen die treuesten Fans aus Ostzeiten. Schon damals kam die Dame gerne zu Besuch hinter den Eisernen Vorhang, um ein bisschen Glanz in die Bude zu bringen, einen nach Dior duftenden Hauch von Frankreich, das ja völlig unerreichbar war. Ihr erstes Deutschlandkonzert hatte sie 1966 hier, im Friedrichstadtpalast.

„Mensch, Mutti, is ditt nich schön“, fragt der Sohn, der die betagte Mutter die große Treppe hinauf zum Saal geleitet – die Karten waren nun nicht billig, und dieser eigentlich so profane Montag war etwas ganz Besonderes.

Im Givenchy-Kleid steht nun eine Frau auf der Bühne, die mindestens so alt ist wie Mutti – und dabei noch immer äußerst stimmgewaltig. Sie singt Chansons und sie singt Schlager („Akropolis, Adieu“, „Hinter den Kulissen von Paris“). Mit der Stimme hat sie weniger Probleme als mit dem Laufen, und so wird jede Sangespause zur Zitterpartie: Fans erklimmen die Bühne und überreichen Blumen, bekommen Luftküsschen – aber sieht sie auch die weiße Markierung am Bühnenrand? Und, auch das ein Problem, wie finden die betagten männlichen und weiblichen Fans den Weg zurück in die Sitzreihen? Man sieht ja nichts, der Scheinwerfer wegen!

Die Fünftagevorschau

Fr., 4. 5.

Peter Weissen­burger

Eier

Mo., 7. 5.

Mithu Sanyal

Mithulogie

Di., 8. 5.

Doris Akrap

So nicht

Mi., 9. 5.

Adrian Schulz

Jung und dumm

Do., 10. 5.

Jürn Kruse

Nach Geburt

kolumne@taz.de

So wird dieser Abend auch zu einem der Sorge – um die eigenen Eltern zum Beispiel, die hoffentlich sicher zu Hause auf der Couch sitzen und nicht durch die Gegend gondeln, um sich den Oberschenkelhals zu brechen.

Und dann ist da, für diesen einen Moment, ein tröstendes, warmes Gefühl: Dass es Mireille Mathieu noch immer gibt, wie eine wandelnde Kindheitserinnerung mit Vidal-Sassoon-Frisur. Als ob man, schon im Schlafanzug, noch ein bisschen aufbleiben darf, um fernzusehen. Ob deshalb so viele ZuschauerInnen während des Konzerts ihre Schuhe ausgezogen haben? Vielleicht handelt es sich bei dieser befremdlichen Sitte auch um ein weiteres Mysterium der untergegangenen DDR. Ich habe jedenfalls so getan, als hätte ich nichts gesehen.