Im Alter aufs Land: Trügerische grüne Idylle
AussteigerInnen fürchten den Ärztemangel in der Provinz. Immerhin: Die Notfallversorgung an Kliniken soll verbessert werden.
Ein Bündnis der Immobilienlobby empfahl kürzlich, im Alter doch einfach die sündhaft teuren Metropolen zu verlassen und sich ein Häuschen im Umland zu kaufen, preisgünstig, ruhig, im Grünen. Es ist verdächtig, wenn die Immobilienwirtschaft linke Aussteigerträume kapert. Dabei sorgt die Fantasie eines ländlichen Idylls schon lange nicht mehr für Seelenfrieden. Nicht wegen Artensterben, Monokultur, Landgrabbing. Nein, vor allem der Gedanke an einen Facharztbesuch oder gar einen medizinischen Notfall auf dem Land jagt Angstschauer durch die Aussteigerseele.
Da hilft es wenig, dass die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) am Donnerstag Gutachten beziehungsweise einen Beschluss vorstellten, nach denen die Notfallversorgung auch in ländlichen Regionen künftig besser ausgestaltet werden soll.
Die KBV hatte ein Gutachten in Auftrag gegeben, das zu dem Schluss kam, dass in den Notaufnahmen der Krankenhäuser zunehmend auch Patienten sitzen, die objektiv gar keine Notfälle seien. Es seien darunter Leute, denen ein Arztbesuch in einer Praxis nicht in den Terminkalender passe oder die beim Facharzt erst einen Termin in drei Monaten bekommen würden.
Patienten besser umleiten
Diese PatientInnen will man künftig besser steuern, indem sie sich möglichst schon vor dem Aufsuchen einer Notaufnahme bei einer Vermittlung telefonisch melden sollen. Dann können sie eventuell umgeleitet werden in eine Bereitschaftspraxis.
Auch die stationäre Notfallversorgung soll qualitativ verbessert werden. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) präsentierte am Donnerstag ein gestuftes System der stationären Notfallversorgung, nach dem Krankenhäuser, die offiziell als „Notfallkrankenhaus“ deklariert sind, zumindest eine Station für Innere Medizin, eine für Chirurgie und eine Sechs-Betten-Intensivstation anbieten müssen und innerhalb einer halben Stunde nach Einlieferung ein Facharzt verfügbar sein muss. Nur dann sollen diese Krankenhäuser entsprechende Zuschüsse erhalten.
Ein Drittel der Krankenhäuser erfüllt die Kriterien nicht, viele sind auch jetzt schon nicht an der Notfallversorgung beteiligt. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft warnte allerdings davor, dass Rettungswagen möglicherweise bestimmte Krankenhäuser nicht mehr anfahren würden und weitere Wege hätten.
Die Arztdichte erfragen
Wie sich aus dem KBV-Gutachten schließen lässt, wollen allerdings viele der PatientInnen in den Notaufnahmen, etwa mit Bandscheibenschaden oder Augenproblemen, gar nicht unbedingt in eine Klinikambulanz, auch nicht zum Bereitschaftsdienst, sondern wären froh, wenn sie zeitnah einen Termin bei einem Facharzt bekämen.
Doch auf dem Land kann genau das schwierig werden, wie Aussteiger wissen, die sich ein Häuschen im Wendland, in Mecklenburg-Vorpommern oder in Brandenburg kauften und sich in einer 30 Meter langen Schlange vor einer Facharztpraxis in Luckenwalde oder sonst wo wiederfinden, wenn sich ein Rückennerv verklemmt hat oder im Gesichtsfeld plötzlich schwarze Flocken auftauchen. Die Jagd nach Terminen ist erst recht berüchtigt in manchen Regionen.
Die Karte der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), die etwas aussagt über die Arztdichte in den Regionen, sollte man vielleicht konsultieren und mit dem eigenen Gesundheitszustand abgleichen, bevor man die Flucht in die Abgeschiedenheit erwägt.
Drei Augenärzte auf 100.000 Leute
In München beispielsweise kommen 74 HausärztInnen auf 100.000 Einwohner, in Uckermark-Barnim aber nur noch 62 HausärztInnen auf diese Einwohnerzahl. In Berlin gibt es neun AugenärztInnen pro 100.000 Einwohner, in Barnim nur sechs, im Emsland etwas über drei. Was die Orthopäden betrifft, praktizieren in München 15 pro 100.000 Einwohner, in Berlin elf, in Stendal in Sachsen-Anhalt aber nur sechs und im pfälzischen Alzey bei Worms nur vier Orthopäden für diese Einwohnerzahl.
In der Provinz kann man sich auf lange Warteschlangen, langfristige Terminvergabe und lange Fahrtzeiten zum Arzt einstellen. Aber man zieht ja auch nicht aufs Land wegen des Arztes, sondern wegen der Natur – und hofft, dass das stressarme Leben in der grünen Idylle wie durch ein Wunder so manchen Arztbesuch im Alter erspart. Schließlich hängt alles mit allem zusammen. Auch die Immobilienpreise.
So kann man laut Immowelt in Stendal ein 100-Quadratmeter-Reihenmittelhaus für 30.000 Euro kaufen. In Alzey gibt es ein 120-Quadratmeter-Haus für 115.000 Euro. In Berlin kriegt man dafür nicht mal eine Einzimmerwohnung. Und auch in dieser Metropole sitzen Leute in den Notaufnahmen, die eigentlich nur zu einem Facharzt wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Protest in Unterwäsche im Iran
Die laute Haut
Krise der Ampel
Lindner spielt das Angsthasenspiel