„Alles ist im Fluss“

Gastspiele des Cloud Gate Dance Theatre aus Taiwan sind eine Kostbarkeit. Oft trat die Kompanie beim Festival Movimentos in Wolfsburg auf, das dieses Jahr zum letzten Mal stattfindet. Ein Gespräch über Anfänge und Abschiede mit dem Choreografen Lin Hwai-min

Szene aus „Formosa“, der Produktion, die in Wolfsburg gespielt wirdFoto: Liu Chen-hsiang

Interview Astrid Kaminski

Lin Hwai-min ist der international bekannteste Choreograf Asiens. Er hat mit seiner Kompanie Cloud Gate einen unverwechselbaren Stil zwischen Ballett und Martial Arts geprägt. In seinem Heimatland Taiwan kann er keine Straße überqueren, ohne erkannt zu werden.

Seine Fangemeinde kann ihn noch einmal auf dem Movimentos-Festival in Wolfsburg erleben. Zum 5. Mal ist das Cloud Gate Theatre dort eingeladen. Das könnte die letzte Gelegenheit sein: Lin geht in Rente und VW braucht das Kraftwerk, eine entkernte Industriehalle, die seit 2003 Movimentos als Festival­basis diente, wieder für die Energieproduktion. Während die Zukunft von Movimentos in der Schwebe liegt, wird die Kompanie von Lin Hwai-min einen neuen Direktor bekommen.

Das Interview fand in Chicago statt, der zweiten Station von Lins Abschiedstournee mit seinem letzten Stück „Formosa“. Er serviert mitgebrachten grünen Tee, wirkt aufgeräumt, mit kurzen emotionalen Unterbrechungen. Manche Wörter schreit er unvermittelt in den Raum.

taz: Herr Lin, erinnern Sie sich noch daran, dass Sie mir nach unserem letzten Interview den Pflanzenmarkt von Taipeh zeigten? Sie kauften zwei Bäume, etwas größer als Sie selbst.

Lin Hwai-min: Sicher! Sie gedeihen prächtig. Sie kennen ja den Garten, den wir um das Cloud Gate Theatre herum angelegt haben. Ich möchte, dass die Menschen sich wohlfühlen bei uns. Nachdem unsere Probenräume abgebrannt waren, hat das Publikum uns ein neues Theater gespendet, das verpflichtet!

Sie haben mit Cloud Gate die bekannteste Tanztheater-Kompanie Asiens gegründet. Nun sind Sie mit Ihrer letzten Choreografie auf Welttournee. Wie fühlt sich das an?

Eine fantastische Reise. Es gab schwere Zeiten, viele Herausforderungen, aber: Wir haben überlebt (Drakula-Stimme). Wir haben auf Gemeindeplätzen, in den Aulen von Schulen und Universitäten begonnen, nun touren wir seit Jahrzehnten durch die ganze Welt. Ich habe mir das Choreografieren selbst beigebracht, wer hätte gedacht, dass jemals jemand ein Ticket für eine meiner Shows kauft? Wir haben zu einer Zeit angefangen, als es noch überhaupt keinen modernen Tanz in Taiwan gab. Inzwischen gibt es eine große zeitgenössische Szene, Tanz kann studiert werden. Aber das Erlebnis, das mich am meisten beeindruckte, war während einer Pilgerreise in den Bergen, als nachts, in vollkommener Dunkelheit, eine Bäuerin auf mich zu kam und mir für meine Arbeit dankte. Dann ist sie in der Dunkelheit verschwunden.

Und nun hören Sie auf.

„Formosa“ war nicht als mein letztes Stück geplant. Was mir aber wichtig ist: Dass ich die Kompanie zu einem Zeitpunkt übergebe, zu dem ich noch in der Lage bin, den gesamten Übertragungsprozess zu übersehen. Wenn ich noch drei Jahre warte, werde ich vielleicht falsche Entscheidungen treffen. Außerdem habe ich nun, da wir ein eigenes Theater haben, ja auch die Gelegenheit, in Rente zu gehen, ohne die Existenz der Kompanie zu gefährden.

Fühlen Sie sich, nachdem ein Auto Sie erfasste und Ihr Knie zersplittert wurde, nachhaltig geschwächt?

Auch. Aber schlimmer ist, wenn ich merke, dass ich Namen vergesse – Namen von Leuten, die ich kenne.

Sie sagten mir einst, dass Sie kein Museum für Ihre Arbeit schaffen wollen.

Nun, „Formosa“ ist mein neunzigstes Stück und natürlich wünsche ich mir, dass einige Stücke im Repertoire der Kompanie bleiben. Darum nehme ich mir für die Übergabe auch viel Zeit. Aber nach 2020 entscheidet der neue künstlerische Leiter, was Programm wird, ich werde draußen sein. Wenn mein Name gelöscht sein wird, ist das in Ordnung. Tanz bedeutet, für ein oder zwei Stunden ein Wunder zu schaffen. Danach ist es vorbei.

Formosa“ ist die Bezeichnung, die portugiesische Seefahrer der Insel gaben, und bedeutet „schön“. Liegt darin für Sie auch das Begehren der Kolonialisten, ähnlich wie die Griechen Helena begehrten?

So weit gehe ich nicht. Auch kolonialisierten die Portugiesen die Insel nicht. Das waren die Spanier, die Niederländer und dann die Chinesen. Ende des 19. Jahrhunderts, rund um die Zeit, als Schwanensee in Europa Premiere feierte, wurde die Insel dann den Japanern übergeben. Als diese wiederum im Zweiten Weltkrieg geschlagen wurden, ging die Insel zurück an die Chinesen. Dann kamen die Nationalisten, die Massaker, das Kriegsrecht. Erst 1987 wurde es abgeschafft. Seitdem versuchen wir Demokratie. Allerdings leben wir in einer Gesellschaft, die sich zunehmend politisch selbst zerfleischt. Im Parlament geht es handgreiflich zu – wollen Sie das sehen? (holt sein Handy raus) –, Familien spalten sich in Lager und reden nicht mehr miteinander. Diese Entzweiung ist etwas, was wir derzeit auf der ganzen Welt betrachten können. Es geht mir in meinem Stück darum letztendlich um eine verlorene Schönheit.

Sie waren so stolz auf die Studierendenproteste, die sogenannte Sonnenblumenbewegung. Nun haben Sie eine Präsidentin, die daraus hervorgegangen ist. Aber die Hoffnungen der Menschen scheinen enttäuscht.

Wir waren sehr stolz darauf, dass wir eine weibliche Präsidentin haben, aber ihre Umfragewerte sind im Keller, ja. Die Leute wollen sofort Resultate sehen, ansonsten wenden sie sich wieder ab. Wie ist es bei Merkel?

Kurz gesagt: auch nicht so toll. Die gute Seite an ihr ist, dass sie nicht emotional reagiert.

Aber sie hat die Gesellschaft auch gespalten, richtig? Nachdem sie die Flüchtlinge ins Land ließ, wurde die Rechte stark.

Foto: Liu Chen-hisiang

Lin Hwai-min

1947 in Taiwan geboren, gründete 1972 das Cloud Gate Dance Theatre, die erste Modern-Dance-Kompanie Taiwans.

Das stimmt. Aber die neue Rechte hatte sich schon konstituiert. Ich möchte noch einmal auf die Kolonialisierung zu sprechen kommen. Bereits 1978 machten Sie das Stück „Legacy“ über die Unterdrückung der taiwanischen Aborigines durch die Chinesen. Das war kein Problem?

Es hätte eines sein können. Es war die erste Theaterarbeit, die je über die Geschichte Taiwans geschaffen wurde. Selbstverständlich schrieb uns die nationalistische Regierung in die Lehrbücher, dass wir Chinesen seien. Was ich tat: Ich legte die Premiere von „Legacy“ in den Süden – das ist historisch stimmig, weil dort, in Chiayi, die erste Siedlung der Chinesen lag. Ich gab vor, dass die Premiere dort stattfinden würde, weil sie das Gedenken an die ersten Einwanderer, unsere Vorfahren, wachhalten wolle. Damit ging ich vorsichtshalber der Aufmerksamkeit aus dem Weg, die eine Hauptstadtpremiere bekommen würde. Doch plötzlich passierte Folgendes: Am Morgen der Premiere kündigte der damalige amerikanische Präsident Jimmy Carter die diplomatischen Beziehungen mit Taiwan. Das zog den Taiwanesen den Boden unter den Füßen weg und hatte zur Folge, dass die Regierung mein Stück über Nacht im Sinn des eigenen Existenzkampfes las. Jimmy Carter hat mich gerettet!

In „Formosa“ gibt es nun ein Voice-over aus Gedichten, die sowohl in indigener als auch in klassisch chinesischer Tradition geschrieben sind, außerdem wird eigens improvisierter Gesang des Aborigine-Sängers Sangpuy Katatepan Mavaliyw eingespielt.

Wir kannten die Bezeichnungen der Dörfer und Berge unseres Landes lange Zeit nicht; beziehungsweise es entstand erst nach Ende des Kriegsrechts ein Interesse dafür. Allein die Namensnennung in den Gedichten macht die Leute emotional, sie haben geweint. Und ja, der Sänger ist erstaunlich. Er ist jung, aber in seiner Stimme liegt eine Erfahrung, als hätte er schon sehr viel durchgemacht.

Sie haben eine Tanz-Methode entwickelt, die Sie „puls of life“ nennen, eine Mischung aus Ballett, zeitgenössischem Tanz, Martial Arts, Qigong, Daoyin und Meditation. Das alles ist in „Formosa“ zu sehen, aber das Stück orientiert sich auch am Puls des Gehens, wie es im postmodernen Tanz oft geschieht.

Ja, ich habe die Gruppe endlos gehen lassen. Das Fließen der Zeit. Das Stück ist mein freiestes, alles ist im Fluss, die Technik ist nicht mehr so explizit, sondern eher eine energetische Grundlage.

Sie haben als Schriftsteller angefangen. Dann den Tanz entdeckt. Was passiert, wenn Sie sich nun als Choreograf zurückziehen? Werden Sie wieder schreiben?

Das Leben ist ein seltsamer Kreis. In Iowa habe ich den Tanz entdeckt, in Iowa zeigte ich die internationale Premiere meines letzten Stücks. Das war nicht geplant, es passierte einfach, mein Agent plante das. 20 Jahre habe ich gebraucht, um die Wörter aus meinen Stücken herauszustreichen. Nun, in „Formosa“, sind sie zurück. Aber wenn Sie mich fragen, ob ich eine Autobiografie schreiben werde, so denke ich: eher nein. Die Biografie eines Obdachlosen ist doch sehr viel interessanter als die einer Berühmtheit.

„Formosa“. 26.– 29. 4., Festival Movimentos in Wolfsburg