Ulrich Schulte über Andrea Nahles’ 66-Prozent-Ergebnis
: Lasst sie doch erst mal machen

Glaubt man dem medialen Tenor nach dem SPD-Parteitag, ist Andrea Nahles als neue Vorsitzende so gut wie erledigt. Die Tatsache, dass nur 66 Prozent der Delegierten für sie stimmten, sei eine „historische Schlappe“, titelt die Süddeutsche. Die FAZ beobachtet – nicht ohne heimliche Freude – „erste Zeichen der Selbstzerstörung“. Und die Welt attestiert ein „Misstrauensvotum“, das die Zerrissenheit der SPD dokumentiere.

Solche Deutungen sind ein Lieblingssport von Journalisten, den ich, das vorab, selbst auch betreibe. Aber: Entscheidend ist doch, wie Nahles ihr Chefinnenamt ausfüllt – und wie sie die SPD positioniert. Von den 66 Prozent redet nächste Woche kein Mensch mehr. Nahles wird keine schwächere Vorsitzende sein, weil ein knappes Drittel der Delegierten lieber die Kommunalpolitikerin Simone Lange an der Spitze gesehen hätte. Auf Nahles’ Führungsqualitäten kommt es an.

Vielleicht ist es sowieso aus der Zeit gefallen, Meinungsverschiedenheiten als Streit und knappe Entscheidungen als Misserfolge zu interpretieren. Die 100-Prozent-Euphorie für Martin Schulz 2017 hatte ja etwas Surreales, weil sich in ihr die Hoffnung ausdrückte, ein Heilsbringer könne den komplex gelagerten Niedergang der Sozialdemokratie beenden. Was daraus wurde, ist bekannt.

Journalisten fordern Parteien gerne zum demokratischen Wettkampf auf. Jener, so heißt es, sei gerade in Zeiten angebracht, in denen Rechte vom Einheitsbrei der Systemparteien faseln. Aber wenn ein Konflikt dann demokratisch entschieden wird, ist es auch wieder nicht recht. Dann wird ein knappes Votum als Weltuntergang interpretiert.

Soll die SPD dem Publikum nach dem Ringen um die Große Koalition Harmonie und Geschlossenheit vorspielen? Bitte nicht – dann lieber ehrlich. Wenn sich in dem Achtungserfolg Simone Langes etwas verbirgt, dann die Sehnsucht nach linker Politik, die sich Teile der Basis wünschen. Nahles täte gut daran, den Wunsch nicht zu ignorieren. Ansonsten gilt: Lasst sie doch erst mal machen.