Das Tagebuch vom gläsernen Abgeordneten

taz geht wählen – die Serie zur Bundestagswahl am 18. September. Die 64 nordrhein-westfälischen Direktwahlkreise im Porträt. Wer kämpft um die Mandate? Wer sind die Außenseiter? Wer gewinnt? Heute: Dortmund I

Dortmund I?

Das „Herz Westfalens“ schlägt sich weiterhin wacker: Noch immer gibt es 600.000 Einwohner, die zwischen Westfalenhalle und Konzerthaus in Großstadtflair und Vorortidylle leben, obwohl Kohle und Stahl längst zur Industriekultur geworden ist. Die Mikrotechnik soll nun dafür sorgen, dass die Großstadt nicht verwaist und verfällt wie nach dem 30-jährigen Krieg: Damals wurde aus der blühenden Hansestadt ein verarmtes Städtchen mit 4.000 Einwohnern (Stand 1815). Sogar von Iserlohn wurde man übertroffen. Der Wahlkreis 143, Dortmund I, umfasst den Stadtwesten von Bier und Borussia.

Wer verteidigt den Wahlkreis?

Spannend und „recht aufregend“ fand Marco Bülow (SPD) seine ersten Wochen im Bundestag. 2002 trat er erstmals als Direktkandidat an und wurde mit 57,8 Prozent gewählt. Mittlerweise hat sich der 34-jährige an Berlin gewöhnt. Aber keine bange, sein Lieblingswohnort bleibt, natürlich, sein Wahlkreis: der Dortmunder Westen. Bülow hat sich als Umweltpolitiker im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Reaktorsichheit und als Berichterstatter für erneuerbare Energien einen Namen gemacht. Jugendlich aufmüpfig brachte sich der Dortmunder Anfang des Jahres ins Gespräch: Als „Gläserner Abgeordneter“ veröffentlichte er eine genaue Aufstellung seiner Einkünfte. Und damit seine Wähler wissen, was er sonst in der Hauptstadt so treibt, schreibt er ein Online-Tagebuch im Internet. Sollte ihm sein Wahlkreis flöten gehen, muss er als 52. der SPD-Landesliste seine Notizen allerdings wieder aus Dortmund schreiben.

Wer will den Wahlkreis?

Bülows Herausforderer Matthias Ulrich (CDU) ist ein Neuling: Als Nachfolger von Jürgen Böhm tritt er zum ersten Mal als Kandidat zur Bundestagswahl an. Als Mitglied im Rat der Stadt war der stellvertretende CDU-Kreisvorsitzende bis jetzt im Ausschuss für Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung und im Rechnungsprüfungsausschuss der Stadt aktiv. Immerhin, das Wahlprozedere ist dem gebürtigen Dortmunder bestens vertraut: Bei den letzten Wahlen war Ullrich Wahlkampfleiter der Dortmunder CDU. So wird er auch wissen, dass in der SPD-Hochburg Dortmund vergleichsweise wenig Stimmen für schwarze Direktkandidaten zu zählen sind.

Der große Außenseiter?

Der Grüne Markus Kurth hat sich in den letzten drei Jahren bei den Dortmunder Wählern wenig beliebt gemacht. Als Sozialpolitischer Sprecher der Grünen zog er gegen soziale Kürzungen in den Kampf – dem Hartz-IV-Paket hat gleichwohl er zugestimmt. Macht ja nichts, wenn der Wahlkreis enttäuscht ist – seine Partei ist‘s nicht: Platz sechs auf der Liste sichert ein Bundestagsticket.

Die taz-Prognose?

Dortmund bleibt rot, Bülow am Bülowbogen, Ullrich wird weiter Stimmzettel auszählen. Ob die SPD mehr als 50 Prozent einheimsen konnte, erfahren wir dann aus Bülows Tagebuch. JOSEFINE FEHR