Ein Herz für die Historie

Der Londoner Literaturbetrieb war Mantels Sache nie

Hierzulande verwechselt man ihn gern mit dem mehr als ein Jahrhundert später geborenen puritanischen Diktator Oliver Cromwell, der den englischen König Charles I. aufs Schafott schickte. Aber Thomas Cromwell (1485–1540) brachte es zwar nicht zum Alleinherrscher, war aber ebenso effektiv, wenn es um die Durchsetzung staatlicher Interessen ging. Ein so loyaler wie skrupelloser Berater Heinrichs VIII., organisierte er dessen erste Scheidung und füllte die königlichen Schatzkammern mit den Reichtümern. Anders als sein katholischer Gegenspieler Thomas Morus genoss er bis vor wenigen Jahren einen eher zweifelhaften Ruf. Ausgerechnet ein historischer Roman sollte das ändern.

„Wolf Hall“ (deutsch: Wölfe) erschien 2009, pünktlich zum 500. Jahrestag der Krönung Heinrichs VIII. Seine Verfasserin hatte Erfahrung mit der Rehabilitierung übel beleumdeter historischer Figuren. Als 23-Jährige – sie hatte gerade aus Geldmangel das Jurastudium abgebrochen und arbeitete als Verkäuferin in einem Warenhaus in Manchester – schrieb Hilary Mantel ihren ersten Roman. „A Place of Greater Safety“, mit mehr als 30 Jahren Verspätung unter dem Titel „Brüder“ nun auch auf Deutsch erschienen, widmete sich den Protagonisten der Französischen Revolution. Vor allem Robespierre sei ihr dabei so sehr ans Herz gewachsen, erzählte Mantel dem New Yorker, dass sein Ende auf der Guillotine sie fast zum Weinen gebracht habe. Und der energische Cromwell, unter dessen Ägide sich England in ein protestantisches Staatswesen verwandelte, schien ihr ein verwandter Charakter.

Anders als in Deutschland ist der historische Roman in Britannien nicht mit dem Ruch des Trivialen behaftet. „Wolf Hall“ erhielt glänzende Kritiken, wurde mit dem Man-Booker-Preis ausgezeichnet und verkaufte sich blendend. Mantel, bis dahin nicht gerade eine Bestsellerautorin, war plötzlich berühmt. Und unabhängig. Journalistische Brotjobs konnte sie an den Nagel hängen. Der Londoner Literaturbetrieb war ihre Sache nie. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem kleinen Dorf an der Küste Devons, dessen Einwohner zu großem Teil die 70 überschritten haben. Hier kann sie sich ganz auf ihre Romanprojekte konzentrieren. Inwieweit ihr das gelingen wird, ist nicht gewiss, denn nun hat „Bring Up the Bodies“, der zweite Teil des als Trilogie angelegten Cromwell-Epos, wieder den Man-Booker-Preis gewonnen. JOACHIM FELDMANN