Jan Jekal
Ausgehen und rumstehen
: Auf den Gräbern blühenjetzt wieder die Blumen

Es ist ein sonniger Tag, also treffen wir uns an der Friedhofspforte. Wir bewegen uns ohne Jacken und merken sofort, welche Last wir im Winter mit uns herumgetragen haben. Wir können wieder im Freien essen, Döner auf der kleinen Bank vor dem Spielplatz, zum Beispiel, denn auf dem Friedhof, das wäre schlechter Stil.

Ich habe mir eine Sonnenbrille zugelegt. Seit ich meine gute letzten Sommer verloren habe, trug ich nur noch ein Billigmodell aus dem Drogeriemarkt, mit violett getönten Gläsern: entsetzlich als Accessoire und ästhetisch ein Verbrechen. Sein High-End-Pendant hätte selbst Elton John nicht aufgesetzt. Jetzt habe ich wieder eine gute, wieder eine von der Marke, die ich mag, und ich trage sie, während ich also gut gelaunt über den Friedhof laufe. Hier sind alle ganz gut drauf gerade, das kommt wohl von der Sonne. Eine Gruppe beohrringter Jungs mit Bomberjacken macht Subkultur-Sightseeing.

Da ist ein neues Grab in der Reihe, ein Statement-Grab mit einem geschliffenen schwarzen Stein, in dem man sich beim Vorbeigehen spiegelt, ein Grab mit sauber geharkter schwarzer Erde, frisch gepflanzten Stiefmütterchen und einer schmachtenden Artillerie aus Keramik-Engeln. Es wäre vielleicht ein bisschen gruselig, mich plötzlich selbst in einem Grabstein gespiegelt zu sehen, wäre da nicht diese fantastische Sonnenbrille, wegen der ich mich über diese unverhoffte Spiegelung schon freue und ein bisschen anfange zu posen.

Meine Freundin überlegt, ob es pietätlos ist, aus einem Grab einen Kräutergarten zu machen. Ich bin mir nicht sicher, aber ich würde die Kräuter nicht essen.

In der Bahn bettelt ein junger Mann, er sagt seinen Namen und sein Alter, und während mir auffällt, dass er jünger ist als ich, lese ich im Berliner Fenster, dass Matthias Reim findet, es sei ein komisches Gefühl, 60 zu werden. Abends sind wir in einer Galerie in Mitte. Der Künstler hat alte Postkarten von fremden Menschen zu Leinwänden zusammengeklebt und darauf die Köpfe von Tieren gemalt, und die Tiere schauen einen an, und man sieht zuerst gar nicht, dass die abgebildeten Tiere ausgestopft sind.

Auf die schwarz-weißen Tierköpfe hat der Künstler in bunten, durch Schablonen gesprühte Großbuchstaben, Sätze aus den Postkarten aufgeschrieben. „Wir wollten gestern ins Paradiso, war aber leider zu“ ist so ein Satz. Die Postkarten waren aus dem Vatikan. Es ist auch ein lebendiges Tier in der Galerie, ein Labrador, dessen Pfoten auf dem glatten Boden kratzen, und der zieht meine ganze ­Aufmerksamkeit auf sich, sodass ich dem Künstler, der bereitwillig die eigenen Arbeiten analysiert, gar nicht richtig zuhören kann. Mit meinem Bleistift und dem Block sehe ich aus wie ein Journalist, und hoffentlich fragt mich keiner etwas oder erwartet von mir, dass ich etwas frage. Ich schaue auf meine Notizen. „Salzgebäck (sehr gut)“, steht da. Ah ja, das Salzgebäck. Das war sehr gut.

Das Wetter müssen wir nutzen, also gehen wir anderntags ins Kino. Im Delphi in Charlottenburg zeigen sie „Transit“ mit anschließendem Filmgespräch. Regisseur Christian Petzold und Hauptdarsteller Franz Rogowski sind da und sprechen über ihren Film, den ich schon im Wettbewerb der Berlinale mochte und unbedingt ein zweites Mal auf der Leinwand sehen wollte. Rogowski hat eine Cap auf, zu der meine alte Sonnenbrille aus dem Drogeriemarkt ganz gut passen würde. Wir gehen zu Fuß nach Hause, das geht ja wieder, jetzt, wo der Winter vorbei ist. Ich schaue nach oben, der Himmel ist schwarz und wolkenlos, aber Sterne gibt es keine, wir sind ja in der Stadt. Es gibt wenig Besseres, denke ich, als Filme zu schauen und über sie zu reden, draußen, auf dem Weg nach Hause.