So spielt doch kein Absteiger, oder?

18:7 Torschüsse, 58 Prozent Ballbesitz, 80 Prozent Passquote und 3:2 Tore. Der Hamburger SV schlägt den Tabellenzweiten Schalke, und so mancher Fan fragt sich, was nun noch alles möglich ist

Klassenkampf an der Elbe: Oben ist Filip Kostić und unten Schalkes Matija Nastasić, dessen Team ja anderes gewohnt ist Foto: reuters

Aus Hamburg Daniel Jovanov

Viele Fans des Hamburger Sport-Vereins grübeln derzeit vor allem über eine Frage: Was wohl möglich gewesen wäre, hätte Christian Titz die Mannschaft schon deutlich früher übernommen? Zum Beispiel im Januar als direkter Nachfolger von Markus Gisdol. Intern wurde die Personalie Titz in der Vergangenheit häufiger diskutiert. Doch die ehemaligen Verantwortlichen Heribert Bruchhagen und Jens Todt entschieden seinerzeit anders. Sie holten Bernd Hollerbach als Trainer, gewannen auch mit ihm weitere sieben Spiele nicht. Und mussten am Ende alle gehen. Heute wissen sie: Bei der Auswahl eines Chefcoaches hätten sie mehr Risiko wagen müssen. Denn der bisher im Profibereich unerfahrene 47-jährige Titz hat der Skepsis an seiner Befähigung zum Trotz am Samstagabend beweisen können, wie viel mehr in dieser HSV-Mannschaft steckt als nur Gebolze und Mauer-Taktik. Offenbar kann sie auch ganz gut Fußball spielen, wenn man sie entsprechend einstellt.

Das Publikum honorierte den Mut zu mehr Offensive mit Applaus und Begeisterung. Die Resignation ist mit dem 3:2-Sieg über den FC Schalke 04 einer neuen Hoffnung gewichen. Die Fans spüren, dass Titz’ Änderungen am System Früchte tragen. Das Spiel des HSV sieht nun tatsächlich anders aus: Es gibt mehr Ballbesitz, flache kurze Kombinationen, Ballstafetten über mehrere Stationen, Dribblings und somit auch mehr Torchancen. Gegen Berlin (1:2) sahen sie eine engagierte erste und eine konfuse zweite Halbzeit; in Stuttgart (1:1) waren es schon gute 60 Minuten. Dass es ausgerechnet gegen den Tabellenzweiten, ein Team, das sechs Spiele hintereinander gewann, zu einer guten und dominanten Leistung über die gesamte Spieldauer reichen würde, hat viele Beobachter überrascht, zumal es dem HSV sogar gelungen ist, zwei Mal einen Rückstand zu drehen. Die Statistik: 18:7 Torschüsse, 58 Prozent Ballbesitz, 80 Prozent Passquote. So spielt kein Absteiger.

„Alles, was wir uns vorgenommen haben, hat der HSV umgesetzt. Wir haben im ersten Durchgang sehr, sehr schlecht gespielt, der HSV hat uns den Schneid abgekauft“, sagte Schalkes Trainer Domenico Tedesco. Lob von Trainern der Gästeteams gab es für den HSV selten in dieser Saison. Vor dem Sieg gegen die Königsblauen hatten die Hamburger 132 Tage kein Spiel mehr gewonnen. Erst ein Traumtor von Aaron Hunt aus 25 Metern in den Winkel, wenige Minuten vor Spielende, brachte dem akut abstiegsbedrohten Bundesliga-Dino den ersten dreifachen Punktgewinn seit November 2017. Die Dramaturgie dieses Spiels ähnelte dabei den vielen Abstiegskämpfen der letzten Jahre. Es scheint so, als brauche dieser Klub den höchstmöglichen Druck, um über sich hinauszuwachsen. „Es war schon eine extreme Achterbahnfahrt, die wir gefahren sind. Ich hätte es mir etwas klarer gewünscht. Wir glauben daran, dass wir zurückkommen können, und geben uns noch nicht auf. Wir verfallen jetzt aber nicht in Euphorie“, kommentierte Christain Titz den Auftritt seiner Spieler.

Offenbar kann das Team ganz gut Fußball spielen, wenn man es nur richtig einstellt

Einen Anlass für Euphorie gibt es ohnehin nicht. Tabellarisch hat sich die Situation nur minimal verbessert, da der VfL Wolfsburg 2:0 in Freiburg gewann und die Partie Köln gegen Mainz 1:1 endete. Der Rückstand auf den Relegationsplatz liegt nun bei fünf Punkten und einer um sechs Tore schlechteren Tordifferenz. Ob er bei nur fünf ausbleibenden Spielen noch aufzuholen ist? „Wir haben schon einmal betont, dass wir der HSV sind: Wir wollen das Unmögliche möglich machen“, verspricht Torschütze Lewis Holtby, der seit seinem Wechsel vor vier Jahren schon zwei Mal eine Rettung in letzter Minute erlebt hat. Er weiß genau, wie verrückt diese Liga kurz vor dem Ende einer Saison sein kann.

Und der FC Schalke? Hätte sich selbst über eine deutlich höhere Niederlage nicht beklagen dürfen. „Der HSV war uns in puncto Kampf und Leidenschaft dieses Mal überlegen. Unser Gegner hat nicht gespielt wie ein Tabellenletzter“, befand Sportvorstand Christian Heidel. Dafür spielte sein Team auch nicht so, als gehöre es in die Champions League.