„Der Westen führt zu sozialer Verdummung“

Den Ostdeutschen sind Sicherheiten und Ziele verloren gegangen, darum scheint es ihnen egal, was gewählt wird. Den Dresdner Autor Thomas Rosenlöcher interessiert es aber doch – und er will den Teufel nicht an die Wand malen

taz: Herr Rosenlöcher, bei den Demoskopen gilt das Ost-Wahlvolk als unberechenbar. Warum sind Ossis so wenig konstant?

Thomas Rosenlöcher: Das kommt daher, dass die Leute einen Riesenverlust an Sinn, Zielen, Sicherheiten und Arbeit zu verkraften haben. Man war in der DDR zu großen Teilen der Meinung, dass der Osten viel beknackter als der Westen war, aber schien wohin zu gehen. Jetzt geht es nur noch um die Erhaltung des Status quo. Deshalb scheint es egal, wen man wählt. Vielleicht gleich die Aufsichtsräte, die jetzt die Regierungen beraten und wissen, was das Beste für uns ist. Es kommt hinzu, dass wir seit 55 Jahren Leute an den Westen verlieren. Diese unentwegte Abwanderung spüre ich auch in meinen Lesungen. Die Leute, die mit mir jetzt altern, werden alle nicht klüger, und es kommt kaum jemand hinzu. Für einen Kulturmenschen wird es immer schwieriger, im Osten zu leben.

Wer lebt denn noch im Osten?

Ich muss gestehen: Vor zehn Jahren wusste ich ungefähr über die Leute Bescheid. Meine Herkunft und Daseinsweise brachte das mit sich. Aber inzwischen bewege ich mich wie die meisten in dieser Gesellschaft nur noch in Säulen. Als Schriftsteller etwa treffe ich nur noch auf Leute, die schon ein, zwei Bücher gelesen haben. Im Zug sitzt man hintereinander wie im Flugzeug, jeder raschelt mit seiner Zeitung und sonst ist nix. Das bringt der Westen mit sich, der eine viel mehr gestaffelte und geschichtete Gesellschaft ist. Das halte ich für eine Art von sozialem Verdummungsprozess. Damit wird man unpolitischer, leider.

Etwa proletarischer?

Es gibt auch kluge Proleten! Aber Schönbohms unterstellter Verblödungsprozess hat erst mit dem Westen eingesetzt. Wenn ich in der DDR in ein Taxi stieg, hörte der Fahrer Deutschlandfunk. Und er konnte ihn sogar verstehen! Den meisten geht es materiell zwar besser als vor 15 Jahren, aber viele sind in ihrer sozialen Bedeutung herabgestuft worden. Das führt zu katastrophalen Prozessen im Kopf.

„Das geht nicht mehr lange“ war die vorherrschende Stimmung in der DDR. Ist das jetzt wieder so?

Ja, und insofern erschrecke ich natürlich auch, denn ich habe wenig Lust auf einen neuerlichen Zusammenbruch, nachdem ich einen Systemwechsel hinter mir habe. Insofern denke ich neuerdings sogar manchmal patriotisch und überlege, wer am besten gewählt werden sollte.

Mit welchem Ergebnis?

Ich sollte im Gefolge von Günter Grass einen Aufruf unterschreiben, mich für die SPD zu erklären, aber das habe ich dieses Mal einfach nicht gekonnt. Ich sage mir, wenn sie jetzt wieder so knapp gewinnen würden, hätten wir dieselbe Situation. Und die wäre vielleicht noch furchtbarer als eine Regierung, die vielleicht falsch regiert, aber wenigstens regiert. Andererseits habe ich Angst, den Rest meines Lebens mit Frau Westermerkel verbringen zu müssen.

Ökonomisch gilt für den Osten: Heute stehen wir am Abgrund, morgen sind wir einen Schritt weiter …

Ich würde nicht den Teufel an die Wand malen. Das kann man nicht wünschen. Es ist schon komisch: Sosehr man Westdeutschland kritisch gegenübersteht, so ist es doch ein recht freies Land.

Schon Kurt Biedenkopf forderte, sich mit materieller Zweitklassigkeit abzufinden und dafür Ideelles zu betonen. Ist das ein Ausweg?

Das wäre zu viel verlangt, und so ist die Gesellschaft nicht angelegt. Aber wir sind noch verhältnismäßig belastbar und können uns wie früher bescheiden. Insofern ist mir nicht ganz so bange. Wir haben es geübt, ein paar Schritte zurückzugehen. Ich habe bloß Angst vor sozialen Verwerfungen.

In Ihrem Buch „Ostgezeter“ klagte die Westtante: „Was ihr uns kostet!“ Was sagt sie heute?

„Was ihr uns kostet!“, klagt sie natürlich. „Was uns die ganze Welt kostet!“ Mythologisch gesehen ist meine Tante zu einer Art Atlas geworden. Das war damals sozusagen der Beginn des Westgezeters. Es wird im Westen genauso viel gejammert wie im Osten. Was mich eigentlich glücklich machen sollte, denn ich halte Jammern für etwas Menschliches. Dieses Überlegenheitsgetue finde ich viel blöder.

Also Jammern als anthropologische Konstante?

Wenn ich zum Beispiel gefragt werde, was ich denn zurzeit schreibe, muss ich unbedingt so tun, als ob ich gerade wieder etwas besonders Großartiges vorhätte. Wenn man als Sachse früher gefragt wurde, wie es geht, ging es mir natürlich immer mies – um aus der Beschreibung der wirklichen Lage Kontakt zu finden und etwas daraus zu machen. Das ewig Positive deckt mich als Mängelwesen zu, und das stört mich. Wenn der Westen nun auch Mängel feststellt, jammert und verostet, ist das ein Schritt hin zu einer realistischeren Welthaltung

INTERVIEW: MICHAEL BARTSCH