ZEIT.ORTE

Helmut Höge, geb. 1947, schreibt seit 1980 für die taz unter anderem Regionalrecherchen über Wirtschaft und Naturkritik. Beim Verlag Peter Engstler ist außerdem seine zwölfbändige Reihe „Kleiner Brehm“ mit Texten zu Tieren erschienen. In seinem taz-Blog „Hier spricht der Aushilfshausmeister“ berichtet er regelmäßig über Tiere, Pflanzen, Pilze und Menschen.

Tiere in Alsobhut

Helmut Höge

Für meinen ersten Zoobesuch richtete ich mir einen eigenen Zoo ein – auf einem Streifen Ödland im Hinterhof. Da war ich vielleicht zwölf. Ausgestellt wurden einige Amphibien und Reptilien: ein Laubfrosch, eine Erdkröte, zwei Eidechsen, ein Gecko, eine Blindschleiche und eine griechische Landschildkröte. Aber auch mein Meerschweinchen musste mit auf den Hof, durfte dort jedoch frei herumlaufen.

Mein Zoo war etwa einen Quadratmeter groß, die Gehegeeinfassungen bestanden aus Ziegelsteinen. Ich war vollauf damit beschäftigt, die Tiere immer wieder am Ausbrechen zu hindern, namentlich den Gecko und die schnellen Eidechsen – Rotkehlanolis, die ich von den Tierpflegern des Aquariums im Überseemuseum geschenkt bekommen hatte. Gleichzeitig musste ich auch noch bei allen an meinem Zoo interessierten Kindern aus unserer Straße zehn Pfennig Eintritt kassieren und sie davon abhalten, die Tiere anzufassen und in die Hand zu nehmen. Das alles war so anstrengend, dass ich den Zoo nur einen Nachmittag betrieb – und dann nie wieder. Vor allem hatte ich mich über die rohe Schaulust der Zoobesucher entsetzt.

Noch heute schimpfen die Zoodirektoren über ihr Publikum. In seinem Buch „Zoologische Gärten. Gestern – Heute – Morgen“ klagte der Zürcher Zoodirektor und Tierpsychologe Heini Hediger, dass sich mit steigenden Besucherzahlen auch immer mehr „Rowdys und Zoovandalen“ einschleichen. Seine Erfahrung hat ihm aber auch gezeigt, dass es „zwischen dem primitiven Anglotzen der Tiere und der besonderen und gezielten Forschung natürlich alle Übergänge gibt“. Lobend erwähnt er in diesem Zusammenhang den ältesten Zoo der Welt, der vor 3.150 Jahren in China eingerichtet wurde – den „Park der Intelligenz“. Hedinger veröffentlichte sein Buch 1977 – und warnte darin bereits seine Kollegen, aus ihren anspruchsvollen Tierparks billige Amüsierstätten zu machen. Zu seiner Zeit gab es noch einige Zoos, auch in Weltstädten, die fatal „der Schaubude und den Vergnügungsparks“ ähnelten.

Es gibt einen launigen 1000-Seiten-Roman des Schriftstellers Martin Kluger. Er handelt von den Ränken und Leiden des Personals des Westberliner Zoos, vor allem des Direktors, seiner wissenschaftlichen Assistentin, seines Pressesprechers, sieben Tierpflegern und einigen weiteren Zooaffinen – unter dem Titel: „Abwesende Tiere“ (2002). Der Zoodirektor hatte laut Martin Kluger ein besonderes Verhältnis zu seinen Pförtnern: „Auf sie konnte er sich verlassen. Weniger auf die Besucher, von denen die meisten, ob sie es wussten oder nicht, die geborenen Tierquäler waren, Frauen und Kinder voran.“ Gleichzeitig spendeten die Frauen aber auch die größten Geldsummen für den Zoo und mussten deswegen pfleglich behandelt werden. Besonders schlimm war es dort während der Pfingstkonzerte, wenn sich „an die 300.000 Besucher durch den Garten wälzten, die Blumen platt trampelten und die Tiere steinigten, die zu diesem Anlaß extra sediert werden mussten …“.

Mit dem Neoliberalismus kehren die modernen Zoos wie so vieles andere auch wieder zum Amüsierkonzept zurück – mit Karussells, Delphinarien und safariparkähnlichen Ideen, mit „Tropennächten“ und „Feuerwerk“. Ich wollte nach meiner ersten Zooerfahrung lieber Zoologe werden statt Zoodirektor, las „Brehms Tierleben“ und abonnierte den Kleinen Tierfreund, den der Sohn des Frankfurter Tierparkdirektors, Michael Grzimek, herausgab. Auch sein Vater, Bernhard Grzimek, beklagte sich im Übrigen gerne über die Zoobesucher, immer wieder fand man in den Mägen verendeter Tiere die unmöglichsten Gegenstände, mit denen Besucher sie „gefüttert“ hatten.

1974 gab der Kölner Zoo dem Tierpark von Kabul einen Löwen, der dann Marjan genannt wurde. Als vor einiger Zeit ein Taliban-Kämpfer in den Käfig kletterte, um seine Tapferkeit zu beweisen, fraß Marjan ihn. Der Bruder des Taliban warf daraufhin eine Granate auf ihn, weshalb er am Ende halb blind und lahm sein Dasein fristete. 2002 berichtete der Spiegel: „Der Tod des einäugigen Marjan im Zoo der afghanischen Hauptstadt Kabul hat Tierfreunde in aller Welt erschüttert. Er hatte die Invasion der Sowjetunion, den Bürgerkrieg, die Taliban und zuletzt die US-Bombenangriffe überlebt.“

Mit 19 fing ich im Bremer Tierpark an – als Aushilfstierpfleger. Der Zoo gehörte dem indischen Tierhändler George Munro. Er machte oft Tauschhandel-Geschäfte mit dem Ostblock, indem er zum Beispiel einen indischen Elefanten für den Ostberliner Zoo gegen zwei in Leipzig gezüchtete sibirische Tiger tauschte. Die Ironie des Schicksals („Sibirien oder Sieg!“) wollte es, dass die Zoos der DDR immer besonders viele Tierarten aus Sibirien ausstellten – und speziell der Leipziger Zoo erfolgreich sibirische Tiger züchtete. Noch heute sind im Berliner Tierpark alle Freigehege für Großkatzen mit ihnen belegt. Dafür gibt es dort keine Löwen mehr, seitdem die Zoologische Garten AG die Tierpark GmbH „geschluckt“ hat.

Man glaubt es kaum, wie oft die Zootiere unterwegs in andere Zoos sind: um sie zu verpaaren, um Inzucht oder Zwietracht zu vermeiden, um Nachwuchs loszuwerden, um zu tauschen und zu verkaufen. Der Hamburger Elefantenpfleger Karl Kock schreibt, Elefanten seien „Lerntiere“ und keine „Instinkttiere“, zudem seien sie soziale Tiere mit dauerhaften Bindungen, „aber in vielen Zoogruppen sind die Elefanten bunt zusammengewürfelt. Tiere, die sich nicht in eine Gruppe integrieren, werden von Zoo zu Zoo und vom Zirkus zum Zoo gereicht, bis sie ihre Identität verlieren. Sie erhalten mehrmals andere Namen, bis sie in keinem Tierbestandsregister mehr zu finden sind. Solche Elefanten unterliegen gravierenden Charakterveränderungen.“ Der Schweizer Zoologe Fred Kurt kritisiert gerade die meist erfolglosen „Hochzeitsreisen“ der Elefantenkühe in den Zoos zu Bullen in anderen Zoos. Die Zirkuselefanten sollen dagegen angeblich den ewigen Transporten inzwischen etwas abgewinnen können. Erwiesen ist, dass sie sich im Gegensatz zu den Zooelefanten nachts nicht von Lärm und Licht oder fremden Leuten stören lassen und liegen bleiben.

Über die sibirischen Tiger im Tierpark Friedrichsfelde sagt man, dass sie ihre Aktivitäten mit der Anzahl der Tierparkbesucher und deren lauten „Ahs“ und „Ohs“ steigern. In dem Westberlin-Roman „Abwesende Tiere“ findet sich dazu ein Gespräch zwischen einigen Tierpflegern im Zoo-Restaurant: „Weißt du noch, der harte Winter? Täglich nur 900 Besucher? Wie die Tiere fast durchdrehten?“ „Die Affen kriegten nen Koller ohne die Besucher, die langweilten sich zu Tode, wie wenn man den Fernseher abstellt.“ „Die Babys klammerten sich an die Pfleger.“ „Und unsere Amazonaspapageien kriegten nen Koller ohne die Besucher, ich weiß noch, wie sie an ihren Federn rissen und sich die Flügel kahl hackten.“ „Die Robben und Seelöwen starrten trübsinnig in den grauen Himmel.“

Diese Eindrücke werden von Heini Hedigers zoobiologischen Forschungen bestätigt: „Es darf aufgrund sorgfältiger Erhebungen gesagt werden“, schrieb er, „dass sich die (höheren) Tiere im Zoo ohne Publikum langweilen, dass sie durch die Besucher unterhalten und angeregt werden.“ Tierpsychologisch gesehen hänge das mit der „tiergartenbiologischen Extra- und Introvertiertheit der Tiere“ zusammen, d. h. mit dem Grad von Interesse, „welches sie für die Vorgänge außerhalb ihres künstlichen Territoriums zeigen. Da kann man die größten Überraschungen erleben. Vom Fisch bis zum Affen.“

Wegen Ausbruch der Maul- und Klauenseuche bei den Huftieren musste der Zürcher Zoo mehrmals geschlossen werden, Hediger erinnert sich, wie augenblicklich die Stimmung sank: „Eine allgemeine Apathie, um nicht zu sagen Depression breitete sich alsbald im Zoo aus. Die Tiere lagen oder standen gelangweilt und langweilig herum und waren dankbar für jeden Reiz …“

Von vielen Affenarten wusste man bereits, dass Sonntage mit vielen Zoobesuchern sie zu vermehrten Kunststücken und sozialen Auseinandersetzungen anregen. „Seine“ Kapuzineraffen ließ Hediger einmal mit versteckter Kamera beobachten. Dabei kam heraus: „Ohne Zuschauer verhielten sie sich sehr ruhig. Sobald aber Besucher vor ihren Käfig traten, setzte eine allgemeine Aktivität, besonders Spielen, ein, oft eine erstaunliche Akrobatik bis zum Handstand und Purzelbaum.“

Als ich im März 2016 im Zuge einer lokalen Rabenvogelrecherche erstmalig die Voliere zweier Kolkraben im Tierpark Friedrichsfelde entdeckte, sah ich schon von weitem, dass sie wegen der Kälte bewegungslos auf einem Ast trotzten. Aber kaum stand ich vor ihnen, begannen sie, einen Teil ihres Repertoires vorzuführen, so schien es mir jedenfalls: Während der eine Rabe auf einen nahen Ast flog und laute „wrru“-Rufe ausstieß, fischte der andere erst einen Zweig aus dem Wasserbecken und hebelte dann auf einem Baumstamm ein Stück Rinde ab. Sodann flog er auf einen Ast und stieß kehlige „koark“-Laute aus, was ziemlich anstrengend aussah. Der erste Vogel flog währenddessen auf die Erde, schaufelte mit halbgeöffnetem Schnabel den Sand an einer Stelle weg und zog ein angefaultes Stück Holz heraus. Das sah der „singende“ Rabe, landete hinter dem anderen und schaufelte ebenfalls den Sand an einer Stelle weg, jedoch ohne Eifer, auch schienen ihm die kalten Sandkörner im Schnabel unangenehm zu sein. Das fand alles innerhalb der durchschnittlichen Verweildauer eines Tierparkbesuchers vor einer Voliere statt, ich war beeindruckt. Als ein Kolkrabe über die Voliere flog und Flugrufe ausstieß, hielten die beiden inne und schauten lange in den Himmel.

Später erfuhr ich: Es handelt sich bei ihnen um ein Paar, das 2010 geborene Weibchen wurde noch im selben Jahr vom Tierpark erworben und das etwas größere Männchen ein Jahr später. Man würde die beiden inzwischen gerne auswildern, aber das erlaubt die Naturschutzbehörde nicht. Zum Spielen haben sie in ihrer nicht eben kleinen Voliere einen gelben Ball. Bis jetzt sah ich sie aber noch nie, dass sie damit spielten. Bis vor einiger Zeit brüteten im Tierpark noch wildlebende Kolkraben und gelegentlich setzte sich der eine oder andere auf die Voliere der zwei gefangenen. Diese krächzen und kollern oft und gerne, aber wenn ein schwarzer Vogel, ein Rabenvogel, über die Voliere fliegt, sind sie still und gucken ihm lange nach.