Zettel-Ehe und wunde Finger

Für den kargen Nachtzuschlag nehmen die Arbeiter vieles in Kauf: Tagelang sehen sie ihre Partner nicht, schlafen nie aus, ihnen fehlt es an Appetit. Zwei Nacht-Beschäftigte erzählen von ihrem schwierigen Alltag in den Betrieben

DORTMUND taz ■ Nicht alle Nachtschichten sind gesellig: Ab 22 Uhr sitzt Manfred Petersmann alleine in der dunklen Leitstelle des Versorgers Dortmunder Energie und Wasser. Der Techniker blickt auf ein riesiges Stromnetzmodell. Kontrolllampen leuchten, auf zahlreichen Monitoren flackern Zahlen, Linien, Diagramme. Petersmann wacht über die gesamte Stromversorgung Dortmunds. „Ruhig ist es hier eigentlich nicht. Das Netz schläft nie“, so der 44-Jährige, der seit zehn Jahren im Schichtdienst arbeitet. Bis zu vier Mal pro Nacht fällt irgendwo der Strom aus. Häufig klingelt das Telefon, weil sich Kunden beschweren wollen. Petersmanns Schultern tragen viel Verantwortung. Bei Störungen muss er entscheiden, ob er seine Kollegen aus dem Bereitschaftsdienst heranzieht oder Fachleute zu Reparaturen rausschickt. Stressig wird es, wenn bei wichtigen Einrichtungen wie Krankenhäusern der Strom ausfällt.

Bis sechs Uhr dauert die Schicht, meist arbeitet Petersmann vier Nächte am Stück. Seine Frau sieht er oft tagelang nicht, sie arbeitet ebenfalls in Wechselschichten. „Wir schreiben uns dann Zettel oder SMS.“ Würden seine Nachtzuschläge besteuert, hätte der Techniker jährlich 2.000 Euro weniger. „Dann könnte ich nicht mehr in Urlaub fahren.“ Trotz aller Nachteile möchten einige Nachtarbeiter ihren Job nicht tauschen. „Ich arbeite lieber nachts, das wird besser bezahlt“, sagt Nurgul Haciosmanoglu. Die junge Frau steht in der Dortmunder Süßwarenfabrik van Netten am Band, verpackt Bonbons, füllt klebrige Melasse in Maschinen oder sortiert fehlerhaftes Weingummi aus. Ihre Finger sind dick mit Pflastern beklebt. „Wenn die richtig weh tun, muss ich den Platz wechseln“, sagt sie. Nurgul hat sich daran gewöhnt, mit vier Stunden Schlaf pro Tag auszukommen. „So habe ich mehr Freizeit“, sagt sie. In der Fabrik arbeiten hauptsächlich Frauen. Sie verdienen im Schichtdienst knapp 900 Euro monatlich. Ohne Zuschläge wären es 200 Euro weniger.

Nachtarbeit ist laut Gewerkschaft besonders belastend, der Körper schaltet auf „Schlafen und Erholen“ um. Die Herz-Kreislauf-Funktionen erreichen nachts ihr Minimum, Muskulatur und Verdauung sind auf Ruhe eingestellt. Auch die Konzentrationsfähigkeit nimmt deutlich ab. Nachtarbeiter leiden häufig unter Nervosität, Appetitlosigkeit, Magen-Darmproblemen und Herz-Kreislaufbeschwerden. Weit verbreitet sind massive Schlafstörungen.

GESA SCHÖLGENS