Vorhersehbare Tragödie

Im Prozess um die verhungerte Jessica berichtet der Ex-Mann der Mutter, diese habe schon ihre anderen Kinder schwer vernachlässigt. Bekannte haben nichts bemerkt

Die Tragödie war vorherzusehen. Was der kleinen Jessica widerfuhr, die am 1. März in der Wohnung ihrer Eltern in Jenfeld verhungerte, hatte ihre Mutter zuvor schon ihren anderen drei Kindern angetan – die aber das Glück hatten, rechtzeitig in andere Familien gekommen zu sein. Der frühere Ehemann von Marlies S. berichtete gestern vor dem Landgericht, dass die heute 36-Jährige die Nähe ihrer Kinder „nicht mal geduldet hat: Ich habe es dreimal erlebt, dass meine Ex-Frau überhaupt nichts mit Kindern anfangen kann. Sie war da hoffnungslos überfordert.“

Jessica war offenbar über Monate in einem abgedunkelten Zimmer eingesperrt gewesen. Marlies S. und der Vater des Mädchens sind vor dem Landgericht wegen Vernachlässigung und Mordes angeklagt.

Zwei der Kinder leben inzwischen bei ihrem Vater, dem früheren Ehemann von Marlies S. Dieser sagte, er sei geschockt gewesen, als er von Jessicas Geburt erfuhr: „Ich habe mich gefragt, wie die Frau noch ein Kind kriegen kann.“ Er selbst habe Jessica nie gesehen. Als er wenige Monate nach ihrer Geburt von früheren Nachbarn in Billstedt hörte, dass diese Marlies S. und Jessicas Vater ohne ihr Baby in der Einkaufszone getroffen hätten, habe er das Jugendamt benachrichtigt. Trotz der Vorgeschichte hat die Behörde sich aber offenbar nicht alarmiert gefühlt, einzuschreiten. Jessica war sieben Jahre alt, als sie starb.

Dass Marlies S. ihre Kinder vernachlässigte, war nach Aussagen ihres früheren Mannes der Grund für das Scheitern der Ehe. „Ich konnte es nicht fassen, wie eine Mutter so zu ihrem Kind sein kann“, sagte er gestern. Wäre es nach ihr gegangen, wären die Kinder immer in einem dunklen Raum geblieben. Waren sie im Wohnzimmer, habe die Mutter den Raum nicht betreten. Als ihr erster Sohn im Alter von acht Wochen für längere Zeit im Krankenhaus war, habe Marlies S. ihn dort nicht ein Mal besucht.

Auch der Patenonkel von Jessica wusste, dass das Mädchen in einem spärlich möblierten Zimmer ohne jedes Spielzeug leben musste. Er aber habe sich nichts dabei gedacht. Vor Gericht sagte er gestern aus, in seinen Augen habe sich Jessica „normal entwickelt“ – obwohl er einräumen musste, das Mädchen niemals laufen gesehen oder sprechen gehört zu haben.

Der Prozess wird fortgesetzt.

Elke Spanner