Glück
ist
Trumpf

Was macht es mit einem, wenn man zu einer Wahrsagerin geht? Unsere Autorin hat es ausprobiert. Am Ende ging es ihr gut, sie möchte aber trotzdem lieber anonym bleiben

Was die Karten zeigen: Diese Wahrsagerin arbeitet auf dem Hamburger Dom und bevorzugt offenbar Tarotkarten Foto: imago/Hoch Zwei/Angerer

Elf Uhr vormittags, das klingt nach einer guten Zeit, um in die Zukunft zu blicken. Ich habe gefrühstückt, elementare Fragen des Lebens notiert und mir was Bequemes angezogen, falls die Zukunft ungemütlich wird.

Bei der Begrüßung erschleicht mich das leise Gefühl von „Scheißidee”. „Wenn jemand stirbt, sag ich es nicht“, sagt meine Wahrsagerin, als sie mir die Jacke abnimmt. Ich denke: Ist das dann nicht nur die halbe Wahrheit? Oder sogar noch weniger?

Darf eine Wahrsagerin lügen? „Ich lüge nicht, ich verheimliche nur manchmal Dinge.“ Na gut, aber geht man nicht zur Wahrsagerin, um die ganze Wahrheit zu hören? Liegt doch nahe. Meine Wahrsagerin empfängt mich in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung in einem unaufgeregten 90er-Bau. Weiße Fließen, alles sehr aufgeräumt. Meine Wahrsagerin ist eine kleine Frau jenseits des Renteneinstiegsalters. Fester Händedruck, kurze Haare, von hutzelig ist sie weit entfernt.

Die Zukunft wartet auf mich in der guten Stube. Auf dem Sims des Elektrokamins sind diverse Enkelkinderbilder drapiert. Auf der Fensterbank reihen sich Porzellanengel aneinander, dazwischen noch mehr Enkelkinder. Ich sitze an einem runden Tisch auf einem mittelmäßig bequemen Stuhl. Mir gegenüber meine Wahrsagerin im Ringelpulli. Auf dem Tisch ein Spielkartenset, ein Stapel blauer Karten, eine kleine Glasschüssel mit Kräuterbonbons und eine gelbe Primel, alles andere als übersinnlich.

Ich muss die Karten mischen, mit der linken Hand zweimal abheben. Sie breitet das Skatblatt in fünf Sechserreihen vor sich aus. Die zwei übrigen Karten legt sie unten an. Wieso eigentlich keine Tarot-Karten? „Ich habe das Kartenlegen von meiner Großmutter gelernt, die hat immer das Skatblatt benutzt.“ Sie habe es auch mal mit Tarot versucht, aber da sei alles so festgelegt. Jede Karte habe eine feste Bedeutung. Mit den Skatkarten „sehe“ sie mehr.

Sie fragt mich nach meinem Sternzeichen. Jungfrau. Mein Aszendent? Mein was? Sie winkt ab, das gehe auch ohne. Sie schaut auf die Karten: Es gab da mal jemanden, der sie enttäuscht hat. Ich: Ja. Sie: Sie sind in einer Beziehung. Ich: Ja. Sie: Es gab in den letzten neun Monaten eine Veränderung. Ich: Ja, schon. Sie: Sie sind ja ganz schön einsilbig, da muss aber auch mal was kommen. Sie müssen schon mit mir sprechen.

Ach, ich muss sprechen? Ich dachte, ich bekomme etwas vorhergesagt. Es ist schließlich meine erste Zukunft. Einen Verhaltenskodex über Wahrsagereisitzungen habe ich nirgendwo gefunden. Zugegeben, ich habe auch gar nicht danach gesucht. Ich wollte meine Skepsis und Voreingenommenheit nicht noch anfüttern mit Inhalten von pastellfarbenen und kringelunterlegten Websites.

Ich fange an in ganzen Sätzen mit meiner Wahrsagerin zu sprechen. „Das sieht ja ganz toll aus bei Ihnen!“ Schon zum dritten Mal legt sie die 32 Karten in Sechserreihen vor sich aus. Ich höre, dass ich mit mir im Reinen bin, perfektes Gleichgewicht zwischen Körper und Geist. Dass ich genau den richtigen Beruf gewählt habe, der mir immer wieder Abwechslungen beschert. Im Spätsommer werde ich eine Reise unternehmen. Punktlandung. Das ist tatsächlich geplant.

Der Zukunft verspricht mir sogar ein Eigenheim. Hoppla! Und die Beziehung! Meine Wahrsagerin gerät ganz aus dem Häuschen. Verschiebt noch mal Karten, nimmt hier ein paar raus, legt da wieder welche hin. Auf mich wirkt das Ganze wahllos, aber: Sie könne nichts Schlechtes sehen. Er, mein Partner, grübele zwar, sei in­trovertiert, aber ehrlich, teile meine Interessen. „Ein ganz toller Typ, mit dem werden sie alt.“ So gute Karten sehe sie selten. Na, bitte, läuft doch. „Wollen Sie ein Glas Wasser?“ Wasser? Mir ist mehr nach Schampus!

Ich vergesse die Fragen, die ich mir notiert habe. Vielleicht auch, weil mein Block im Rucksack an der Garderobe steckt. Sie fände das nicht gut, wenn Leute sich Notizen machen. Dann würden sie nicht zuhören und sie müsse alles dreimal sagen, sagt meine Wahrsagerin. Es sei nicht gut, wenn man sich die Notizen immer wieder durchlese. Dann sei man nicht frei in seinen Entscheidungen. „Sie erinnern sich sowieso daran, was ich gesagt habe, wenn es eintrifft.“

Viele Kund*innen kämen mit ganz konkreten Fragen: Ob sie mit ihrem Expartner wieder zusammenkommen, ob ihr Partner sie betrügt, ob es überhaupt der/die Richtige sei. Liebe habe immer Konjunktur, doch auch Gesundheit und Beruf stehen ganz oben auf der Zukunftsliste. „Es gibt viele Tränen.“ Mein Blick fällt auf das Taschentuchpäckchen neben der Primel.

Nicht alles, was sie sehe, könne sie gut verkraften. Da war mal dieser junge Mann, ganz sympathisch sah der aus. „Als ich dann die Karten aufdeckte, dachte ich, hoffentlich komme ich hier heile wieder raus.“ Sie habe die Psychose gesehen und dass er kriminell werden würde. Ein paar Monate später habe er einen Verwandten erstochen.

Einen Quittungsblock gibt es auch nicht. Hoffen wir nicht alle auf eine Reinkarnation ohne Finanzamt?

Männer berate sie seitdem nur noch selten. Nur auf ausdrückliche Empfehlung von Bekannten. Und auch allgemein werde es weniger, das Kartenlesen werde in ihrem Alter zunehmend anstrengender. „Ich bin dann ja gewissermaßen in dem Leben der Menschen mit drin.“ Sie nehme maximal ein bis zwei Kundinnen pro Tag, ein Zuverdienst zur kleinen Rente.

Kein schlechter, wie mir scheint. Zukunft kostet. Die Kartenleserinnen die ich ausfindig mache, verlangen zwischen 50 und 130 Euro pro Stunde, 40 Euro kostet Kaffeesatzlesen. Auf der Suche nach der Zukunft lande ich auch bei Ebay-Kleinanzeigen. Glück, Hoffnung, Liebe gibt es bei den Inserent*innen im Überfluss, Rechtschreibprüfungen seltener. Meine Wahrsagerin winkt ab: „Es gibt viele, so viele Angebote, aber auch viele Betrüger.“ Sie selbst mache keine Werbung. Und einen Quittungsblock gebe es auch nicht. Hoffen wir nicht alle auf eine Reinkarnation ohne Finanzamt? Erzengel Gabriel lächelt milde von einem gerahmten Kunstdruck an der Wand.

Zum Schluss darf ich noch vier Engelskarten ziehen. Darauf hat jemand stilisierte Engel gezeichnet, auf meinen stehen die Worte: Zielsetzung, Stille, Erkenntnis und noch was Positives, was genau, habe ich vergessen. „Schön”, seufzt meine Wahrsagerin. Meine Sitzung ist beendet, etwas steif klettert sie vom Stuhl und begleitet mich zur Tür. Zum Abschied sagt sie: „Ihnen kann ich sagen, Sie haben viel Glück. Sie brauchen gar nicht mehr wieder zum Kartenlesen kommen.“

Diesen letzten Satz darf ich selbst deuten. Ich glaube, das Schicksal meint es gut mit mir.