Zeichen, die sich verschieben

In China gilt Wahrsagen als völlig normal, viele Paare lassen sich vor ihrer Heirat eine Prognose beim Wahrsager erstellen. Die zugrunde liegenden Lehren sind komplex

Diese Abbildung wird von Wahrsagern des Wong-Tai-Sin-Tempels in Hongkong verwendet Foto: imago/Danita Delimont

Von Liyang Zhao

In China sind WahrsagerInnen wahre Helden. Sie sind Gelehrte, zu denen man aufschaut, oft mit Ehrfurcht. Und sie sind überall. Sie sitzen in Tempeln, in Einkaufshäusern, ja sogar auf der Straße stehen WahrsagerInnen mit Bücherstapeln und Orakel-Postern bereit. Letztere, so erzählt man sich, solle man aber nicht allzu ernst nehmen. Die wollen nur Geld machen. Die anderen allerdings soll man hin und wieder aufsuchen. In Krisenzeiten wie auch vor großen Entscheidungen können SeherInnen den richtigen Weg zeigen.

Vor einer Hochzeit zum Beispiel lassen sich die meisten jungen Paare spirituell beraten. Es läuft ab wie bei einem Interview. Die SeherIn beginnt mit dem Groben wie dem Aussehen, dem Geburtstag, der Berufung. Dann werden die jungen Menschen über ihre Lebensgeschichte ausgefragt, über die ihrer Eltern und Großeltern. Und irgendwo, zwischen dem Wetter bei der Geburt der Verlobten und dem Muttermal ihres Partners, beginnt die Sache ernst zu werden. Am Ende der oft stundenlangen Sitzung erhalten die Paare eine ausführliche Prognose für ihre gemeinsame oder eben getrennte Zukunft. Das Ergebnis ist häufig gnadenlos. Sogar Todesfälle werden in den Gesprächen vorhergesagt. Und des öfteren, so erzählt man sich, stimmen diese Prognosen auf den Tag genau.

Buch der Wandlung

Die dabei angewandten Methoden sind vielfältig, sie reichen von Gesichts- und Handlesen über Horoskope bis zur daoistischen Harmonielehre des ,,Feng-Shui“, wörtlich „Wind und Wasser“, das den Menschen in Einklang mit seiner Umgebung zu bringen versucht. Was aber in den meisten Fällen hinter den Wahrsagen steckt, ist ein 5.000 Jahre altes Buch. Es nennt sich „Yi Jing“, was so viel heißt wie ,,Das Buch der Wandlung“. Es ist eine Sammlung von 64 Strichzeichen, denen jeweils eine Bedeutung zugeordnet ist. Ein Zeichen bedeutet ,,Wanderer“, eines ,,Jugendtorheit“, ein anderes ,,Gemeinschaft mit Menschen“. Es gilt, dass kein Zeichen von Bestand ist. Sie verwandeln sich im Laufe der Zeit zu einem anderen Zeichen, und solange sie sich verändern, kann man die Veränderung beeinflussen. Wie genau diese Veränderung für einen Menschen aussieht und wie man sie beeinflussen kann, wissen aber nur die alten Gelehrten des „Yi Jing“.

Tatsächlich findet man Spuren der Wahrsagerei sogar in Studienplänen chinesischer Universitäten. In Fächern wie Religion oder Philosophie sind die alten Lehren verankert.

Vielleicht steckt ja wirklich mehr dahinter als bloßer Hokuspokus. Als ich sechs Jahre alt war, waren meine Mutter und ich in einem Einkaufszentrum in Tianjin, meiner Heimatstadt in China. Während wir auf einer Bank saßen, beobachtete mich eine Frau eindringlich aus der Ferne. Dann kam sie zu uns rüber und sagte zu meiner Mutter: ,,Ihr Kind wird eines Tages in fernen Ländern zu Hause sein.“ Damals hatten wir uns nichts dabei gedacht. Heute sitze ich doch tatsächlich hier in Hamburg.