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Im Garten, wo das Leben reift

In der digitalisierten Welt gewinnt die ökologische Erziehung an Bedeutung. Manche Schulen beginnen heute früher mit Unterricht in der Natur, um eine lebendige Beziehung zur Umwelt aufzubauen

Bei den Jüngeren ist das Staunen noch ausgeprägt. Das gilt es zu nutzen

Von Katja-Barbara Heine

Fernsehen, Computerspiele, zu wenig Bewegung an der frischen Luft: Kinder wachsen heute viel naturferner auf als noch vor einigen Generationen. Zudem erfordern Klimawandel, Lebensmittelskandale und andere Umweltprobleme dringend ein Umdenken im Umgang mit der Natur. Die ökologische Erziehung, seit fast 100 Jahren essenzieller Bestandteil des Waldorfschul-Lehrplans, bietet hierfür Lösungsansätze. Und rückt an einigen Schulen stärker in den Fokus.

„Der Gartenbau ist Teil einer pädagogischen Idee, die darauf beruht, dass Kinder die Prozesse der Natur aktiv erfahren und somit eine lebendige Beziehung zur Umwelt aufbauen können“, sagt Henning Kullak-Ublick, Vorstandssprecher des Bunds der Freien Waldorfschulen. Dazu tragen die Tätigkeit und Sinneserfahrung im Schulgarten bei. Bereits an der ersten, 1919 in Stuttgart gegründeten Waldorfschule gab es Gartenbauunterricht, über den Rudolf Steiner sagte: „Menschen, die in der Schule einmal diesen Unterricht durchgemacht haben, werden Entscheidungen treffen können, ob eine Methode oder irgendeine Maßnahme in der Landwirtschaft richtig oder falsch ist, nicht weil sie es gelernt haben, sondern aus der Sicherheit des Gefühls heraus. Auch die moralischen Kräfte werden mit so einem Unterricht geübt. In der sozialen Haltung des Erwachsenen erst wird die Auswirkung solchen Unterrichts liegen.“

Literatur & Tagung

„Gärten der Zukunft: Pädagogischer Gartenbau an Waldorf­schulen“ von Christoph Kaiser, Verlag Freies Geisteswesen (2013).

„Der Gartenbauunterricht an der Waldorfschule: Ziele und Aufbau, Methodik und Didaktik” von Birte Kaufmann, Verlag Freies Geisteswesen (2014).

Gartenbaulehrer tauschen sich jedes Jahr auf der Internationalen Gartenbaulehrertagung aus. Die nächste findet vom 26. Januar bis zum 1. Februar 2019 im Kloster Frauenchiemsee statt. Mehr Informationen unter www.gblt.de

Schon im Vorschulalter kommen Kinder spielerisch mit der Natur in Berührung, etwa indem sie Teekräuter sammeln und trocknen oder die Haustiere des Kindergartens versorgen. In der ersten und zweiten Klasse wird das Interesse an der Natur durch Märchen und Erzählungen geweckt. In der dritten Klasse schließlich setzen sich die Schüler im Epochenunterricht intensiv mit dem Ackerbau auseinander – sie säen, ernten und dreschen Weizen und backen daraus Brot. Der praktische Gartenbauunterricht beginnt traditionell in der 6. Klasse, denn erst jetzt haben die Schüler, laut Rudolf Steiner, den Kausalitätsbegriff und können die „Zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkungen ins Auge fassen“. Heute geht der Trend jedoch dorthin, schon früher anzufangen, wie Andreas Pelzer, Lehrer an der Waldorfschule Berlin Mitte, beobachtet. Denn: „Sind die Kinder erst mal mit der Digitalisierung in Berührung gekommen, wird es schwieriger, sie für die Natur zu begeistern“, so Pelzer. „Bei den Jüngeren ist das Staunen noch ausgeprägt. Das gilt es zu nutzen, um die Liebe zur Natur zu wecken.“ Henning Kullak-Ublick spricht von einer „zerklüfteten Zeit“: „Es gibt keine andauernden Prozesse mehr. Kinder müssen lernen, dass sich Zusammenhänge in der Zeit entwickeln. Das zeigt der Gartenbau. Und nicht das Video auf dem Smartphone.“ Eine sinnlich-sittliche Beziehung zur Natur helfe Kindern und Jugendlichen zudem dabei, mit den neuen Medien vernünftiger umzugehen. Einen Nachmittag in der Woche geht es hinaus in den Garten: Schafe pflegen, Unkraut jäten, Möhren ernten oder Hühner füttern – Tätigkeiten wie diese begleiten die Waldorfschüler durch die Pubertät, die wichtige Lebensphase der „Erdenreifung“. In der 9. Klasse steht ein mehrwöchiges Prak­tikum auf einem Bio-, Demeterhof oder einem anderen landwirtschaftlichen Betrieb auf dem Lehrplan. Jetzt tritt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ökologischen Fragen in den Vordergrund.

Den Unterricht gestaltet jede Schule im Rahmen ihrer Möglichkeiten. So ist etwa an die Waldorfschule Heidelberg ein ganzer Hofbetrieb mit Pferden und Kühen angeschlossen. Die Waldorfschule Berlin-Mitte hingegen muss für den Ackerbau mit rund 30 Quadratmetern Erde auskommen. Manchmal sind die Gärten auch ausgelagert und eine kurze Busfahrt vom Klassenzimmer entfernt. Ebenso wie jeder Schulgarten einzigartig ist, haben auch die Gartenbaulehrer im Unterricht große Gestaltungsfreiheit. Viele Schulen halten einen Bienenstock, denn Bienenvölker bieten einen besonders großen Schatz an Möglichkeiten zum Beobachten der Zusammenhänge der Natur. Um gegen die wachsende Enfremdung zwischen Mensch und Natur vorzugehen, werden die Waldorfschulen zunehmend aktiver: Die Rudolf Steiner Schule Hamburg-Wandsbek etwa versucht derzeit, ihr pädagogisches Konzept um ein Landbauprojekt zu erweitern. Dafür soll ein Stück Land gepachtet und von Schülern, Lehrern und Eltern gemeinsam bewirtschaftet werden. „Damit der Gartenbau nicht zu einem romantisierten „Zurück zur Natur“ wird, müssen wir ihn in die gesellschaftliche Gegenwartssituation einbetten“, sagt Thomas Marti, der an der Schule unterrichtet. Eine Herausforderung ist der Faktor Zeit: „Der Gartenbau muss in den – ohnehin schon übervollen – Stundenplan integriert werden. Zwei Stunden pro Woche sind nicht genug, wenn die Schüler auch etwas mitnehmen sollen.“ Vor allem wenn es auf das Abitur zugeht, werde die ökologische Erziehung häufig auf Kosten anderer, „wichtigerer“ Fächer vernachlässigt. In vielen Schulen wird der Gartenbauunterricht schon in der 8. oder 9. Klasse beendet. Waldorfpädagogen zufolge ein ungünstiger Zeitpunkt, weil dann die Pubertät und somit die „Erdenreifung“ der Schüler noch nicht abgeschlossen ist.

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