ZEIT.ORTE

Die Welt retten

Lea Streisand, geboren 1979, schreibt für die taz, die „Berliner Zeitung“ und Radio Eins und ist Moderatorin der Lesebühnen Rakete 2000 und Hamset nich kleina? Soeben erschien die Taschenbuchausgabe ihres Romans „Im Sommer wieder Fahrrad“ im Ullstein Verlag. Er basiert auf dem Fortsetzungsroman „Der Lappen muss hoch!“, der 2013/14 wöchentlich an dieser Stelle erschien, www.leastreisand.de

Lea Streisand

Gestern Abend brüllte Paul durch die Wohnung. „Du kannst nicht die ganze Welt retten!“ Er feuerte das Handtuch auf den Boden, mit dem er das Geschirr aus der Spülmaschine gerade unnötigerweise noch einmal abgetrocknet hatte, bevor er es in den Schrank stellte, stürmte in sein Zimmer und knallte die Tür zu.

Ich hob das Handtuch auf, hängte es an den Haken und räumte die Spülmaschine fertig aus. Er macht das sowieso nie ordentlich. Stellt immer die Gläser mit den Tassen zusammen und dann ist der Schrank voll.

„Tut mir leid.“ Paul stand in der Küchentür.

„Ich weiß“, sagte ich und schloss die Spülmaschine.

„Du machst dir nur immer so viele Sorgen“, klagte er, „und dann geht es dir schlecht und das tut mir leid. Ich will nicht, dass es dir schlecht geht.“

„Ich weiß“, wiederholte ich. „Und du weißt, dass ich nicht weggucken kann. Ich kann mir kein dickes Fell wachsen lassen. Dann wäre ich arbeitslos. Das ist deine Spezialität. Deswegen bin ich Schriftstellerin und du fährst gerne U-Bahn.“

Nächster Tag. Ringbahn Richtung Westkreuz. Ich bin auf dem Weg zu RadioEins. Kolumnen einsprechen. Auf meinen Knien kippelt der Laptop, während ich versuche, auf den letzten Drücker noch irgendwelche Texte hinein zu hacken.

Die Bahn ist voll. Weichenstörung, Schneeflocke auf Schiene oder sonst irgendeine Unabwägbarkeit haben die S-Bahn wieder eiskalt erwischt. Draußen friert es. Neben mir sitzt eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie hat Kopfhörer drin und hält mit geschlossenen Augen ihr Gesicht in die Wintersonne. Sie schielt kurz herüber, als mein Computer ein Geräusch macht. Dann wendet sie sich ab.

Die Glückliche, denke ich. Wahrscheinlich Studentin und zu viel gefeiert.

Plötzlich schallt eine Stimme durch den Wagen. „Schönen guten Tag! Die Fahrausweise mal bitte!“

Ich stöhne entnervt auf. „Mann ey!“, murmele ich. „Ich muss arbeiten!“

Das Mädchen neben mir macht auch ein Geräusch. Ein leises klagendes.

„Oh je!“, denke ich. „Keine Fahrkarte! Hätte sie mal nicht so viel gefeiert!“ Ich speichere meinen Text. Das ist das Allerwichtigste. Dann lasse ich mir viel Zeit, mein Portemonnaie zu suchen. Ich will den Schwarzfahrern Zeit zum Abhauen geben. Ein Kontrolleur stellt sich vor mich hin und wartet geduldig. Er trägt einen beeindruckenden schwarzen Schnurrbart. Ich fummele umständlich meinen Schwerbeschädigtenausweis hervor. Erst die Wertmarke, dann den Ausweis. Dann ist die junge Frau dran. Sie reicht ihm einen Fahrschein.

„Nä“, sagt der Kontrolleur mit leichtem türkischen Akzent und setzt die Füße weiter auseinander, um in der ruckelnden Bahn einen besseren Stand und die Hände frei zu haben, „der is von heut Morgen. Haben Sie kein andere.“ Ich schaue das Mädchen an. Sie sieht mit einem Mal sehr jung aus und sehr unglücklich. Aus den Falten ihres schwarzen Ponchos, der viel zu dünn ist für die Kälte draußen, fummelt sie mehrere weitere Fahrscheine, alle abgestempelt, und reicht sie, fahrig und mit zunehmender Verzweiflung, nacheinander dem Kontrolleur. Einmal berührt mich ich ihre kleine Hand. Sie ist eiskalt. Ich erschrecke.

„Der is von gestern“, sagt der Kontrolleur. Durch seine „Ich-lass-mich-von-keinem-Verarschen-Strenge“ schimmert echtes Bedauern.

„Isch versteh nischt?“, sagt das Mädchen.

Oh nein!, denke ich. Auch das noch.

Die Bahn hält, die Sitzbank uns gegenüber wird frei. Der Kontrolleur setzt sich. Seine Stirn liegt in tiefen Falten. Die Schnurrbartspitzen zeigen kann unten. Der Mann sieht aus wie ein mehrfacher Familienvater, der seinen Kindern erklären muss, dass soeben der Hund von einem Lastwagen überfahren wurde.

„Dann brauch ich Ausweis“, sagt er besorgt und zückt seinen Notizblock. Das Mädchen schüttelt ängstlich den Kopf. Sie versteht ihn wirklich nicht. Ich muss an ein Vögelchen denken, das sich mit einer Kralle in einem Stacheldrahtzaun verheddert hat und heftig flatternd versucht, freizukommen, wodurch die Stacheln sich nur noch weiter durch die dünne Haut bohren.

„Ausweis?“, fragt der Kontrolleur, „Passport?“

„Isch `ab nischt“, sagt sie.

„Führerschein?“, versucht er es weiter.

Sie schüttelt den Kopf. Verzweifelt fummelt sie eine Kreditkarte aus ihrer Tasche. Der Kontrolleur schüttelt den Kopf.

„Wo wohnen Sie denn?“, fragt er.

Sie schüttelt wieder den Kopf. „Isch kein Wohnung“, sagt sie. „Isch bleiben in U-Bahn weil draußen kalt, fahre rum ganzen Tag.“

Ich starre sie an. Es heißt S-Bahn, denke ich, bevor der Gedanke von einem anderen überrollt wird: Sie hat keine Wohnung?! Ihre seidigen Wimpern blinzeln über nussbraunen Augen, die Haut schimmert olivfarben. Nur ihre Nasenspitze ist rot vor Kälte.

Ich schaue den Kontrolleur an, er sieht genauso bekümmert aus, wie ich mich fühle.

„Moment kurz“, sagt er und steht auf. Sie blickt erschöpft aus dem Fenster. Er kommt zurück, eine Kollegin im Schlepptau. Robuste Berlinerin, Typ Wurstverkäuferin. Sie beugt sich mütterlich vor. „Sie sind obdachlos?“, fragt sie das Mädchen. Die Leute gucken. Das Mädchen schüttelt den Kopf. „Isch versteh nischt?“ Sie zieht die letzte Silbe hoch. Dadurch klingt es wie eine Frage.

„Sie haben keine Wohnung?“, sagt die Kontrolleurin.

„Nein, kein Wohnung“, sagt das Mädchen. „Isch fahren immer Bahn. Draußen friert.“

Spanierin, denke ich, kalt heißt frío auf Spanisch. Aber was macht sie denn hier, wenn sie obdachlos ist? Normalerweise ziehen die Clochards doch in den Süden im Winter. Mit den Störchen. Vor fünfzehn Jahren war ich mal in Barcelona, da hat mir das einer erzählt. Da war ich so alt wie das Mädchen.

Die Kontrolleure beraten sich kurz.

„Ist okay“, sagt die Kontrolleurin dann und macht mit der Hand eine tätschelnde Geste in die Luft. „Bleiben sie hier.“ Ihr Kollege reißt das oberste Blatt aus seinem Notizblock.

Die Bahn hält. Sie steigen aus.

Ich sitze wie gelähmt. Schockstarre. Das Mädchen blinzelt kurz und steckt ihre abgelaufenen Fahrscheine wieder ein. In meinem Kopf rasen die Gedanken. Was soll ich denn jetzt machen? Soll ich sie fragen, was ihr passiert ist? Wo sie herkommt? Hingehört? Aber ich habe keine Zeit für die Antwort. Ich komme schon zu spät zu RadioEins. Mein Redakteur wird wieder schimpfen. Die Studios zum Einsprechen werden Tage vorher reserviert und man hat nur sechzig Minuten, von denen elf jetzt schon vorbei sind. Und ich bin noch nicht einmal da. Mein Text ist vergessen, auf dem Bildschirm meines Laptops längst in Dunkelheit versunken.

„Nächste Station: Westkreuz“, sagt die Automatenstimme. Ich klappe meinen Laptop zu und gucke zu dem Mädchen rüber. Sie hat ihre Kopfhörer wieder drin, die Augen geschlossen und das Gesicht in der Sonne. Soll ich ihr Geld zustecken? Aber ich kann ihr doch nicht wortlos einen Schein rüberschieben!

Die Bahn verliert an Fahrt, gleich muss ich aussteigen. Ich verstaue den Laptop. Ich sollte sie fragen, was mit ihr los ist! Mir ihre Geschichte erzählen lassen und sie fragen, wie ich ihr helfen kann. Und ihr nicht wortlos ein Almosen spenden. Die Szene mit den Kontrolleuren war schon erniedrigend genug. Wenn ich wenigstens was zu Essen dabei hätte! Dann könnte ich sie fragen, ob sie Hunger hat.

„Lea!“, klingelt Pauls Stimme in meinem Kopf. „Du kannst nicht die ganze Welt retten!“ Ich hatte mir Sorgen um unsere Nachbarn gemacht, weil die sich wieder den ganzen Tag gestritten hatten.

„Es geht nicht um die ganze Welt“, sagte ich, „sondern um diese Leute, die offensichtlich ein Problem haben, das sie allein nicht gelöst bekommen.“

Paul ist gut im Ignorieren. Ich bin gut im Agieren.

Nur jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.

Die Bahn hält. Ich werfe einen letzten Blick auf das schlafende Mädchen. Dann steige ich aus.