berliner szenen Versunken

Schaufensterpuppen

Ein Mann steht auf dem Bürgersteig und betrachtet ein Schaufenster. Er ist Mitte fünfzig. Er trägt eine Brille. Die Leute müssen um ihn herumgehen, weil der Bürgersteig nicht sonderlich breit ist. Er scheint es nicht zu bemerken, so wie er in den Anblick des Schaufensters versunken ist. Zuerst will auch ich an ihm vorbeigehen, doch dann siegt meine Neugier. Ich bleibe stehen und blicke über seine Schulter.

Im Schaufenster stehen drei Schaufensterpuppen. Sie haben lange Sommerkleider an, und an den Füßen tragen sie flache Ballerina-Schuhe. Eine von ihnen hat einen aus Stroh geflochtenen Hut auf. Die Kleider, die Schuhe und der Hut haben ein Preisschild. Soweit ich das erkennen kann, sind die Sachen bis auf den Hut alle sehr teuer. Ansonsten kann ich nichts Außergewöhnliches entdecken. Die Schaufensterpuppen tragen weder gewagte Unterwäsche, noch locken sie mit irgendwelchen sensationellen Sonderangeboten. Es ist ein ganz normales Schaufenster mit Schaufensterpuppen darin, die das erfüllen, was man von ihnen erwartet.

Was sieht er denn, was ich nicht sehe? Da muss doch irgendetwas sein. Der Mann dreht sich zu mir um und schaut mich durch seine Brillengläser an. Er sieht aus, als sei er gerade aus einem Land zurückgekehrt, in dem er kein einziges Wort verstanden hat. Er sieht ziemlich ratlos aus. „Meine Tochter hat dafür Modell gestanden“, sagt er und zeigt auf die Schaufensterpuppen. Ich sehe die Schaufensterpuppen an. Dann sehe ich den Mann an. Sie sehen ihm überhaupt nicht ähnlich. „So etwas würde sie nie anziehen“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Niemals.“ Dann dreht er sich wieder den Schaufensterpuppen zu, die seine Tochter sind. Ich kann seine Verwirrung verstehen. DANIEL KLAUS