Viele Kopien, ein Original

taz-Serie Wahlkreisduelle (Teil 6 und Ende): Von allen Wahlkreisen ist der in Friedrichshain-Kreuzberg am heißesten umkämpft. Der Grüne Christian Ströbele muss sich der Konkurrenz von Ahmet Iyidirli (SPD) und Cornelia Reinauer (Linkspartei) erwehren

Die Wahlkreisduelle: Selten war der Kampf um Bundestags-Direktmandate in Berlin so spannend wie in diesem Jahr. 2002 gewannen die SPD neun, die PDS zwei und die Grünen einen Wahlkreis. Es ist unwahrscheinlich, dass die Sozialdemokraten dieses Ergebnis wiederholen. Die Union hat laut Umfragen zugelegt, auch die Linkspartei.PDS besitzt gute Chancen, zusätzliche Mandate zu gewinnen. Die taz beobachtete jede Woche ein besonders spannendes Duell

VON UWE RADA

Es ist still in der Turnhalle des Leibniz-Gymnasiums in der Kreuzberger Schleiermacherstraße. Gerade erst hat die Schülermoderatorin den CDU-Direktkandidaten Kurt Wansner nach einem möglichen Einsatz der Bundeswehr im Irak unter einer Regierung Merkel gefragt. Der CDU-Rechtsaußen, der als einziger von den Parteienvertretern an diesem Morgen Anzug und Krawatte trägt, grient ins Publikum. „Es wird auch unter Angela Merkel keinen Auslandseinsatz der CDU im Irak geben.“ Gleich darauf korrigiert er sich. „Keinen Auslandseinsatz der Bundeswehr natürlich.“

Die Schüler und Schülerinnen aus der Oberstufe, ein großer Teil von ihnen aus dem Migrantenmilieu, staunen nicht schlecht. Als Wansner, den sie bei der Begrüßung mit höflichem Beifall und vielen Buhrufen bedacht hatten, noch ergänzt, er wäre gegen den „Weltpolizisten Bush, weil der „mit seinem Sendungsbewusstsein eine große Gefahr darstellt“, gibt es mehr als nur höflichen Beifall. So etwas haben sie nicht erwartet, nicht von einem CDU-Politiker und schon gar nicht von einem, der ansonsten keine Gelegenheit auslässt, rechte Sprüche zu klopfen.

Kurze Zeit später ist unter den mehr als 500 Schülern die Welt aber wieder in Ordnung. Nach Wansner hat Christian Ströbele das Wort ergriffen. „Im Wahlkampf 2002 wurde ich immer wieder gefragt: Haltet ihr euer Nein gegen den Irakkrieg durch? Heute kann ich sagen: Dem Kanzler und dem Außenminister sei Dank wir haben durchgehalten. Deswegen sind wir hier in Deutschland auch sicherer als in Großbritannien.“

Kein Händeklatschen erntet Ströbele dafür, sondern tosenden Applaus. Nach der Steuer- und Bildungspolitik geht auch die Friedenspolitik an diesem Morgen an den Grünen, der 2002 als Erster seiner Partei ein Direktmandat gewonnen hatte. Und das, hat sich Ströbele vorgenommen, will er verteidigen.

Aber ist Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg-Ost immer noch der Wahlkreis, der er vor drei Jahren war? Mit einem Christian Ströbele, der als „unabhängiger“ Kandidat antritt, nicht nur gegen seine Mitbewerber, sondern auch gegen seine eigene Partei und Regierungskoalition? Oder hat sich Ströbele, wie manche im Kreuzberger Oppositionsmilieu vermuten, doch auf die Seite von Rot-Grün, Schröder und Joschka geschlagen, von Unabhängigkeit also keine Spur mehr?

Zunächst einmal hat es Ströbele mit anderen Mitbewerbern zu tun als beim Urnengang 2002. Nach dem Freitod des ehemaligen SPD-Kandidaten Andreas Matthae vor etwas mehr als einem Jahr hat sich der Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg für einen radikalen Schnitt entscheiden. Nicht den Nachfolger Matthaes als Kreisvorsitzenden, Mark Rackles, schicken die Sozialdemokraten gegen das grüne Urgestein Ströbele ins Rennen, sondern den weitgehend unbekannten Bundesvorsitzenden der türkischen Sozialdemokraten, Ahmet Iyidirli.

Iyidirli soll vor allem das Potenzial der wahlberechtigten Migranten mobilisieren. Unumstritten war das aber nicht einmal in der eigenen Partei. Kaum war Iyidirli nominiert, trat der Kreisvorstand um Mark Rackles geschlossen zurück. Iyidirlis Gegenreaktion: „Das sind schlechte Verlierer.“

Die zweite Herausforderin ist die bekannte und populäre Bürgermeisterin des Bezirks, Cornelia Reinauer. Sie wurde von der Linkspartei.PDS nominiert, nachdem die ehemalige PDS-Kandidatin Bärbel Grygier 2002 nur auf Platz drei landete. Nur 20,9 Prozent hatte die Psychologin, die zuvor durch kesse Sprüche Punkte im alternativen Milieu machen konnte, bei der letzten Wahl erzielt. Matthae war immerhin auf 29,8 Prozent gekommen, Ströbele auf 31,5. Ganze 3.782 Stimmen hatten am Ende entschieden, wer den Ost-West-Bezirk rechts und links der Oberbaumbrücke im Bundestag vertreten durfte.

Für seinen Auftritt vor den Abiturienten des Leibniz-Gymnasiums hat sich Ahmet Iyidirli einen bunten Pullover angezogen. Das unterschied ihn nicht nur vom Schlipsundkragenwansner von der CDU, sondern auch von Ströbele. Der kam ausnahmsweise nicht mit rotem Schal, sondern in Jeans und hellblauem Hemd. Den bunten Vogel gab Iyidirli dennoch nicht an diesem Morgen. Der Linkspartei warf er vor, dass sie „Hoffnungen weckt, die sie nicht halten kann“; der FDP-Forderung nach Studiengebühren setzte er die Forderung nach Chancengleichheit entgegen. Doch was Iyidirli auch sagte, es klang alles ein bisschen wie auswendig gelernt. So blieb der 49-jährige gelernte Sozialarbeiter dort, wo er eigentlich eine Hochburg haben müsste, blass und unbestimmt. Eine Kopie auch er – und Ströbele das Original?

Cem Dalaman ist da anderer Meinung. „Wenn es einer schaffen kann, dann ist es Ahmet“, sagt der Leiter der türkischsprachigen Redaktion bei Radio Multikulti. „Iyidirli ist bei jeder Veranstaltung, er kümmert sich um die sozialen Belange der Leute.“ Das zählt, und es zählt nicht wenig: 40.000 Wahlberechtigte türkischer Abstammung gibt es in Berlin, jeder vierte von ihnen lebt in Kreuzberg. Allerdings, räumt Cem Dalaman ein, ist Iyidirli eher der Vertreter der 70er- und 80er-Generation. „Bei der Jugend hat er Probleme. Da kommt ein Grüner wie Özcan Mutlu besser an.“

Oder ein Grüner wie Christian Ströbele? Auch wenn der 66-Jährige 17 Jahre älter ist als sein Herausforderer von der SPD, kommt er mit seiner Ansprache bei den Erstwählern vom Leibniz-Gymnasium besser an. Hätten die Abiturienten darüber zu entscheiden gehabt, wer in den Bundestag darf, sie hätten sich eindeutig für Ströbele entschieden.

Cornelia Reinauer hatte keine Zeit gehabt, in die Schleiermacherstraße zu kommen. Sie hat ihren großen Wahlauftritt am Samstag darauf – bei der Eröffnung des Suppenfestivals in der Kreuzberger Wrangelstraße. Als Schirmherrin des multikulinarischen Straßenfests hat sie es einfach, wünscht von der Bühne herab „Guten Appetit“ und mischt sich in die Menge. „Das ist mein Element“, räumt sie, die die Befriedung Kreuzbergs am 1. Mai als ihren größten Erfolg bezeichnet, hinterher ein. „Ich bin gerne unter Menschen.“

Warum aber dann der Bundestag, das genaue Gegenteil des quirligen Rummels in Kreuzberg und Friedrichshain? „Es sind die kommunalen Themen, die mich umtreiben“, antwortet die geborene Schwäbin in unverkennbarem Dialekt. „Rot-Grün hat es nicht geschafft, die kommunale Finanzreform auf den Weg zu bringen. Mein Ziel ist es, mich mit anderen Abgeordneten, die auch aus der Kommunalpolitik kommen, zusammenzutun und da Druck zu machen.“ Kurz darauf ist sie wieder verschwunden, zum nächsten Termin am Rande des Suppenfestivals, zu den nächsten Händen, die sie schütteln muss.

Cornelia Reinauer ist die Einzige, die Christian Ströbele das Direktmandat streitig machen kann. Das prophezeien inzwischen auch die Hamburger Wahlforscher von „election.de“. Sie sehen weiterhin Christian Ströbele vorne, doch Cornelia Reinauer hat den Abstand verkürzt. Nach jüngsten Prognosen, die election.de für den Tagesspiegel erhoben hat, führt Ströbele mit 29 Prozent vor Reinauer mit 27 Prozent. An dritter Stelle, wenn auch noch nicht abgeschlagen, liegt Ahmet Iyidirli.

Demografischer Wandel

Was am Ende doch den Ausschlag für Ströbele geben könnte, ist der demografische Wandel. Ähnlich wie Prenzlauer Berg, wenn auch mit erheblicher Verzögerung, hat sich der Ostberliner Stadtteil Friedrichshain in den vergangenen drei Jahren weiter zum Szenebezirk verwandelt. 2002 war die PDS in den beiden Stimmbezirken im Ostteil des Wahlkreises auf 29 und 19 Prozent der Stimmen gekommen – mit der Ostberliner Kandidatin Grygier. Cornelia Reinauer dagegen kommt aus dem Westen, und das könnte sich gleich als doppeltes Manko herausstellen: in der Distanz der älteren Wähler gegenüber der Kandidatin, die nicht nur schwäbelt, sondern auch Türkisch spricht. Und in der Bereitschaft der Zuzügler, im Zweifel doch das Original und keine Kopie zu wählen.

In der Turnhalle des Leibniz-Gymnasiums übt sich Ströbele aber auch daran, die Erwartungen zu dämpfen. Wer in ihm erneut den Rebellen vermutet, der wie 2002 eine Art Opposition gegen die eigene Regierung versprach, sieht sich getäuscht. „Auch wir haben den Spitzensteuersatz gesenkt, weil wir geglaubt haben, dass damit mehr Arbeitsplätze geschaffen werden“, verteidigt Ströbele ungewöhnlich deutlich die rot-grüne Regierungspolitik. Und gleich mehrmals lobt er, wie schon in der Irakpolitik, den Kanzler und seinen Außenminister.

Allerdings verbucht er auch die Kehrtwende der SPD auf seinem Konto. „Als wir dann gemerkt haben, dass das nicht der Fall war, haben wir beschlossen, den Spitzensteuersatz wieder anzuheben.“ Aber selbst das klingt nicht mehr rebellisch, sondern irgendwie staatsmännisch. Auch Ströbele, das Original, kann mitunter kopieren.