Die Pinocchio-Politik

THEATER Krisenindikator und Kinderbeglückung: Das Weihnachtsmärchen ist wieder auf der Bühne

„Weihnachtsmärchen“ sind ein nicht zu unterschätzendes Genre: Zwar sind die Zeiten vorbei, in denen sich ein Kultursenator allenfalls zu einer solchen Aufführung ins Bremer Theater begab – der ein oder andere hatte ein Kind im richtigen Alter. Was da gefiel oder auch nicht, prägte politisch relevante Meinungen. In finanzieller Hinsicht ist die Winterkinderbeglückung immer noch der relevanteste Einnahmeposten der Spielzeit – weswegen das „Weihnachts“-Märchen eine Woche nach Sommerzeit-Ende beginnt und bis Februar andauert. Während der Frey-Intendanz rutschte die Premiere bislang stetig nach vorn, das Ende nach hinten, die Aufführungszahl nach oben – das Märchen als Krisenindikator.

„Pinocchio“, seit Sonntag zu sehen, verdient auch wegen seiner Hauptdarstellerin Aufmerksamkeit: Es ist spannend, Johanna Geißler, zuletzt als Mutter eines misshandelten Kindes und Woyzeck-Braut auf der Bühne, in dieser Hosen- und Holzrolle zu erleben. Geißler gelingt es hervorragend, die präpubertäre Puppe zwischen Staksigkeit und kindlichem Elan zu verkörpern. Zwar sind ihre Lieder zu tief gesetzt, als dass ihr gesanglich die Ausdrucksmöglichkeiten blieben, über die sie schauspielerisch reichlich verfügt. Doch in Daniele Nonnis als Tischler Gepetto, der den sprechenden Klotz zum Menschen transformiert, findet sie einen kongenialen Spielpartner – der zudem authentisches italanio-Kolorit einbringt.

Anders als Irmgard Paulis, die Pierwoß’sche Weihnachtsbeauftragte, setzt Dirk Böhling auf die Musicalisierung der Stoffe. Das sorgt für nette Intermezzi, aber auch für die genretypische Dualität der Weltwahrnehmung: Die Herrin des Spielzeugparadieses, in dem Kinder zu Eselsalami verwurstet werden sollen, ist so begründungslos böse wie andere eben gut sind – Böhling will Effekte. Immerhin zeigt sein „Pinocchio“ auch Ansätze eines Entwicklungsromans inklusive Eltern-Message: „Man kann sich doch sein Kind nicht schnitzen, wie man’s gerade braucht.“ Das gilt, um noch mal darauf zurück zu kommen, ja auch für Kultursenatoren. Henning Bleyl