Wenn die Moral ins Wanken gerät

GESPRÄCH Elf Monologe, ein Thema: Verhandelt wird die Moral beim zweiten Monologfestival im Theaterdiscounter Berlin unter dem Motto: „Was gilt jenseits von Gut und Böse?“ Die freie Theaterszene wagt sich an ein heikles Thema

Am Ende ist aus dem leidenden Monolog ein friedlicher Dialog entstanden

Ach, die Moral. Was für ein sperriges und lästiges Thema. Seit der Antike wird sie immer wieder neu definiert, durchdekliniert, gepredigt, aufgetischt, nie verdaut. Erhobene Zeigefinger und Verbote können aber auf lange Sicht keinen Konsens liefern, so formuliert es der Flyer des Monologfestivals, das zum zweiten Mal vom Theaterdiscounter veranstaltet wird. Dennoch wagen die KuratorInnen Heike Pelchen und Michael Müller das Experiment: Elf Kollektive aus der freien Theaterszene sind eingeladen, die Frage „Was gilt jenseits von Gut und Böse?“ aus der Sicht des Einzelnen zu untersuchen, Gedankenräume zu eröffnen, Impulse zu geben – allesamt in Monologform.

Mit einem neuen Stück des Hamburger Kollektivs andcompany&Co. wurde das Festival am Donnerstag eröffnet. Sascha Sulimma präsentierte den in der Gruppe entstandenen Monolog „Out of the dark into the night (Copy and Taste)“. Das Publikum erfährt darin, dass er aus Frankfurt kommt – wie der Euro. Camper haben dort ein Jahr lang die Banker nachdenklich gemacht, resümiert Sulimma die Occupy-Bewegung. Von Frankfurt geht es weiter nach Straßburg, zum Europaparlament, zur Gema. Jetzt klappt Sulimma seinen Computer zu und gesteht: „Ich war die ganze Zeit online und habe mir den ganzen Kommunismus heruntergeladen.“ Und wenn nun das Publikum nach der Aufführung seinen Monolog weiter verbreitet, wer schütze ihn dann?

Von global genormter Ikea-Idylle bis hin zum privaten Schuldenberg, charmant tänzelt Sulimma zwischen den täglichen Wertefronten, an denen die persönliche Auffassung von Moral ins Wanken gerät. Ein überbuntes Potpourri, aber das Thema wurde erfolgreich in der Gegenwart verortet.

„Du bist frei“, rezitiert am nächsten Tag Michael Kranz einen Text, der in Zusammenarbeit mit Judith Al Bakri vom Münchner Kollektiv HUNGER&SEIDE entstand. Der blonde Dokumentarfilmstudent leidet an einem Dilemma: Die Ungerechtigkeit der Welt empört ihn, doch sein Mitgefühl ist meist nur von kurzer Dauer. Er tut nichts. Nun steht er vor dem Entschluss, das endgültig zu ändern. In dem Film „Whore’s Glory“ von Michael Glawogger hat er eine Prostituierte aus Bangladesch gesehen. Die will er nun heiraten und aus ihrem Elend erretten! Die heldenhafte Reise soll von einer Kamera begleitet werden, das Ergebnis wird zu seiner Abschlussarbeit. Das meint er ernst und fragt in den Theatersaal, was das Publikum davon hält. Das ist zum Glück alert: Eine Frau mit spanischem Akzent gibt ihm freundlich zu verstehen, sein Vorhaben sei egoistisch, es gehe ihm nicht um die Prostituierte, sondern um sich selbst. Seine Weltsicht sei zudem eurozentrisch. Eine andere Frau empfiehlt ihm Filme, die ihn von seinem Vorhaben abbringen könnten. Dann erkennt ein Zuschauer in dem Impuls auch etwas Gutes, eine gewisse Aufrichtigkeit. Am Ende ist aus dem leidenden Monolog eines tatenhungrigen, jugendlichen Westeuropäers ein unerwartet friedlicher Dialog entstanden.

Richtig heikel hingegen könnte es am kommenden Samstag werden. Unter Milo Raus Regie wird die türkischstämmige Schauspielerin Sascha Ö. Soydan Originaltexte des norwegischen Attentäters Anders Breivik vortragen, die bis dato für die Öffentlichkeit gesperrt waren. Richtig oder falsch? Gut oder böse? Die für letzte Woche geplante Premiere im Nationaltheater Weimar wurde jedenfalls kurzfristig abgesagt. Wegen moralischer Bedenken. ELISE GRATON

■ Monologfestival, bis zum 28. Oktober im Theaterdiscounter