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: Nein, so wird die nächste Europawahl wohl kaum „Spitze“ werden

Mehr Demokratie hat das Europaparlament versprochen, als es 2014 das System der Spitzenkandidaten für die Europawahl einführte. Die Bürger sollten endlich wissen, wer auf EU-Ebene die Partei ihrer Wahl anführt – und ­damit über den nächsten EU-Kommissions­präsidenten mitentscheiden. So kam es auch: Jean-Claude Juncker wurde auf der Liste der konservativen Volkspartei EVP gewählt, die eine Allianz von konservativen Parteien in Europa ist.

Diesen demokratischen Fortschritt werde man sich nicht mehr nehmen lassen, betont jetzt EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU). Bei der Europawahl 2019 sollen die Spitzenkandidaten wieder für Transparenz sorgen. Doch nun droht ein Rückschritt. Kritiker wie der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold schimpfen. Grund: Die „Regierungschefs verweigern die Stärkung der Europawahl“, so ­Giegold.

Was ist passiert? Auf den ersten Blick nicht viel. Beim EU-Gipfel am Freitag in Brüssel bekannte sich Kanzlerin Angela Merkel sogar ausdrücklich zur „Realität“ der Spitzenkandidaten. Allerdings machte sie – wie die meisten anderen Staats- und Regierungschefs – eine wichtige Einschränkung: Einen „Automatismus“ könne es nicht geben, der EU-Vertrag lasse das nicht zu.

Das klingt harmlos, könnte aber alles auf den Kopf stellen. Praktisch bedeutet dieser Vorbehalt, dass die EU-Chefs auch einen Politiker für das Amt des Kommissionspräsidenten nominieren könnten, der nicht „Spitze“ war oder nicht einmal zur Wahl stand. Damit wäre das gesamte System ad absurdum geführt.

Es wäre ein Rückfall in alte Zeiten, in denen der Kommissionschef im Hinterzimmer ausgekungelt wurde. Nun fehle das Signal an die Wähler, dass ihre Stimme für die Besetzung des Spitzenpostens zähle, kritisiert deshalb der Grüne Giegold. 2014 hätten sich nur knapp 43 Prozent an der Europawahl beteiligt, nun drohten es noch weniger zu werden. „Wir müssen doch wenigstens versuchen, dagegen anzugehen.“

Doch daran scheinen Merkel & Co. kein Interesse zu haben. Sie klammern sich an ihre nationale Macht – und verweigern auch andere Reformen. So lehnte der EU-Gipfel es sogar ab, die Kommission zu verkleinern – obwohl der Lissabon-Vertrag das vorsieht. Auch europaweite Wahllisten, auf denen sich die Spitzenkandidaten bewerben könnten, wird es nicht geben. Gegen diese Europalisten waren sogar EVP-Chef Weber und die CDU/CSU. Sie wollen am nationalen Wahlsystem festhalten, weil das den Konservativen um Kanzlerin Merkel wohl auch 2019 den Sieg sichern dürfte. Auf Europalisten hingegen hätten auch Außenseiter eine Chance. Sie hätten wirklich mehr Demokratie bedeutet – nun droht ein Machtkampf.

Eric Bonse, Brüssel