Unser Staat ist noch ein Baby

STAATSDOKTRIN Der bolivianische Außenminister David Choquehuanca sprach in Berlin über das interessante Verfassungsinstitut des „erfüllten Lebens“

Wie ein „erfülltes Leben“ aussieht? Boliviens Außenminister David Choquehuanca hat davon ziemlich klare Vorstellungen: Entscheidungen werden im Konsens getroffen, Konflikte im Dialog gelöst, und natürlich findet jede gesellschaftliche Entwicklung im Einklang mit Mutter Erde statt.

Eigentlich war der oberste Diplomat des Andenstaates zu Besuch in Deutschland, um bei seinem deutschen Kollegen um Unterstützung im Einsatz für die Legalisierung des traditionellen Koka-Kauens zu werben. Schließlich sei jedes Volk, das seine kulturellen Wurzeln nicht verteidigt, zum Untergang verdammt, erklärte er im Gespräch mit der taz.

Doch der 51-jährige, indigene Politiker nutzte die Gelegenheit und sprach am Freitag im Iberoamerikanischen Institut in Berlin über das Konzept des „buen vivir“, das in seiner Heimat gewissermaßen zur Staatsdoktrin erhoben wurde und dessen Idee frei übersetzt als „erfülltes Leben“ am besten zum Ausdruck kommt.

Seit 2006 mit Evo Morales ein Vertreter indigener Bewegungen das Präsidentenamt übernommen hat, spielen Traditionen, Rechte und Kosmovisionen der ursprünglichen Bevölkerung im Regierungshandeln eine zentrale Rolle. 2009 wurde eine entsprechende Verfassung verabschiedet, ein Jahr später schrieb der „plurinationale Staat Bolivien“ das Gesetz der Mutter Erde fest, das eine von Gegenseitigkeit geprägte Beziehung zwischen Mensch und Natur fördern soll.

„Im Kapitalismus zählt nur das Geld, im Sozialismus nur der Mensch, uns geht es aber um das gesamte Leben“, erläuterte Choquehuanca in Berlin vor etwa 200 Zuhörerinnen und Zuhörern. Die indigene Vision reiche weit über jene demokratische Prinzipien hinaus, nach denen sich Minderheiten Mehrheiten unterordnen müssten. „Jeder muss seine Gedanken und Gefühle ausdrücken können, gemeinsam gilt es, einen Konsens zu finden“, sagte Choquehuanca, der zu den profiliertesten Vertretern des „buen vivir“-Konzeptes zählt.

Doch so ambitioniert das Vorhaben klingt, so wenig hat es mit den realen Verhältnissen zu tun. Darauf machte ein Bolivianer aus dem Publikum aufmerksam. Er kritisierte die Pläne der Regierung, eine Autobahn durch das indigene Territorium „Nationalpark Isiboro Sécure“ (Tipnis) zu bauen. Gegen dieses Projekt mobilisieren zahlreiche Organisationen. Es geht um die Frage der indigenen Selbstbestimmung, zumal man die Betroffenen vor der Entscheidung nicht einmal konsultiert hatte. Eine Demonstration gegen das Projekt wurde von der Polizei angegriffen.

Choquehuanca rechtfertigte diese Politik mit dem Verweis auf ein Referendum, das nun stattfindet. Zudem macht er Oppositionelle, die angeblich ganz andere Ziele verfolgen, sowie eine von transnationalen Interessen bestimmte Medienberichterstattung für den Konflikt verantwortlich. Das klingt dann doch wieder nach der antiquierten Sprache eines alten sozialistischen Kaders.

Dabei steht der 51-Jährige in der bolivianischen Regierung gegen jene Traditionslinken, die eine Ausbeutung der Rohstoffe und andere Spielarten westlicher Entwicklungsmodelle verteidigen. Sein affirmativer Bezug auf eine „ursprüngliche“, vermeintlich harmonische Welt der Einheit von Natur und menschlichem Wesen sowie sein Ziel, „als Indigene wieder wir selbst sein zu wollen“, stellen zweifellos das dialektische marxistische Verständnis von Entwicklung auf den Kopf, auch wenn sie einem antikolonialen Diskurs entspringen. In der Öffentlichkeit bleibt Choquehuanca dennoch auf Linie. „Wie sollen wir sonst unsere Lehrer bezahlen?“, reagierte er zu Recht auf die Frage, warum Bolivien weiterhin am die Umwelt zerstörenden Bergbau für den Export festhalte. Und der taz erklärt er: „Unser plurinationaler Staat ist immer noch ein Baby. Wir müssen es ernähren und stärken.“ WOLF-DIETER VOGEL