Die Opfer der besseren Welt

Auch nicht mehr das, was sie mal waren? Folge IV: Die Gutmenschen. In den 80ern wollten sie die Welt verbessern. Heute werden sie entweder verachtet oder haben es sich in der Welt nett eingerichtet. Aber sie werden trotzdem überleben

Plötzlich war der Gutmensch auf hoffnungslosem Posten – und die Vokabel wurde zum Killerargument

Die Serie: Auch nicht mehr das, was sie mal waren? Im Wahlkampf neigt die Info-Elite wider besseres Wissen zu einer totalen Fixiertheit auf Parteien und ihre Spitzenpolitiker. Und klagt dabei über eine intellektuelle Leere, über fehlende Impulse aus den anderen Gruppen der Gesellschaft. Wie steht es wirklich um den geistigen Zustand der Republik? Folge III war: Die stöhnenden Unterstützer

VON JAN FEDDERSEN

Kurt Scheel übernimmt immer noch gern die Verantwortung. „Ja“, bekennt er, ohne zu zögern, „ja“, sagt also der Herausgeber der Zeitschrift Merkur, „ich war es.“ Es war ein Tag am Ende des Jahres 1991, die deutsche Einheit war seitens der Linken noch kaum begriffen, die westlichen Grünen just aus dem Bundestag aus Gründen fundamentalistischer Weltabgeneigtheit herausgewählt, da saß der bekannte Film- und Fernsehkritiker und redigierte einen Aufsatz seines Mitherausgebers Karl Heinz Bohrer und machte aus einem „guten Menschen“ einen „Gutmenschen“.

Ein Wort ist knapper, als es derer zwei sind; eines ist schlagkräfter, als zwei es sein können. Und so fiel es in die Welt – und ward gleich zur mindestens in Deutschland, Österreich (Haider!) und der Schweiz (Blocher!!) weltberühmten Schmäh: ein Begriff als Antikosmos zur wollenen Begriffsstutzigkeit der Grünen selbst, sozusagen.

Gutmensch! Du Gutmensch! Gutmenschen! Das ist echt gutmenschelnd! Ein Mann in Berlin, einer Nähe zur politischen Reaktion nach allem, was man weiß, unverdächtig, hatte die Phrase gefunden, mit der sich eine ganze Moral, eine Haltung, ja ein Kollektivgemüt geißeln ließ: Der Gutmensch, das ist immer der andere. Einer, der, was gern von den sogenannten Liberalen der FDP geäußert wurde, über die Welt sich Illusionen macht. Einer oder eine, die oder der immer nur das Beste, mindestens aber das Gute denkt – und dabei aus der Optik verliert, was an Bösem neben dem Guten lauert. Und für diese Haltung stand (und, im Grunde, steht) keine andere Partei so gusseisern wie die Grünen.

Gutmensch, das war für Kurt Scheel zunächst ein Seufzer seinerseits gegen alle eitlen Menschen, die karitativ (gegen den Hunger, gegen den Krieg, gegen das Elend überhaupt) wirken – und sich dabei gern öffentlich beobachten lassen. Tue Gutes und sprich darüber. Das war ja wirklich das grüne Air: Bäumchenpflanzen gegen das Waldsterben, das Weinen coram publico, das Ausstellen von Gefühlen in der Hitze jedweder Kamera. Gutmensch – das ist vokabular die bündige Verknappung jenes Charakters, der sich auf einer Mission glaubt und außerhalb seiner Gleichen nur Heiden sieht. Gutmensch – das war spätestens mit dem Beginn der Ära Helmut Kohls, als ja auch die Grünen ihren gesellschaftlichen Triumphzug zu zementieren begannen, eine Haltung, die bis auf Zynikern und Autisten überhaupt fast allen gemein war. Einer, der irgendwo benachteiligt, diskriminiert, verfolgt war, konnte sich der sorgenden Aufmerksamkeit aller sicher sein. Die Frau besonders, das Opfer des Patriarchats; der Schwule, ein Abfallprodukt der Zwangsheterosexualität; der Dritteweltmensch, in der Falle des Rassismus; der Konsument, ausgetrickst von Supermärkten; das Kind, ausgebeutet und umgeben von „Straßenlärm und Musikboxen“ (Reinhard Mey). Der Gutmensch war ein plenar-erdhockender Bewohner einer sanften Republik, nicht Staatsbürger, Citizen oder Citoyen, sondern ein Mensch der Skepsis und der verhangenen Zuversicht.

Ein Kämpfer des und ums Gemüt sozusagen: Weil die Welt nur besser werden kann, wenn man ihr mit Vertrauen begegnet. Und dies betrachtet, ist es kein Wunder, dass dieses Gutmenschentum erst so spät ins bundesdeutsche Charakterschema einsickerte, denn Vertrauen konnte man in die Welt der Nachkriegszeit höchstens erfahrungshalber sammeln – aber nicht grundsätzlich haben.

Der Gutmensch kam allen anderen Menschen trotzdem immer suspekt vor. Was freilich nichts an dessen Karriere als Leitgemüt ändern konnte. Es wuchs sozusagen über sich hinaus und galt schließlich allen als bedrohlich, – aller Selbstkarikatur zum Widerschein auch Guido Westerwelle –, die Freiheit wie Ökonomie buchstabieren und Schroffheit für die höchste Zivilisationsstufe menschlicher Umgangsweisen halten. Der Gutmensch, die Gutmenschin, um der Geschlechterdemokratie auch sprachlich konsequent zu dienen, war ein protestantisches Fanatikum – und zwar auf die stille Art. Keine Glut war an ihm zu erkennen, kein Feuer schien aus ihm zu lodern: Die Sehnsucht nach dem korrekten, dem politisch korrekten Leben war strikt innerlich, im Über-Ich verankert, als schlechtes Gewissen. Als ewige Pein der Seele, die gute Moral zu kennen und über sie doch zu straucheln. Kauf keine spritsaufenden Karren; sei langsam und nicht hastig; iss öko und kauf umweltbewusst; liebe die Natur und ächte die Stadt; reise nicht mit Hilfe von Kerosinbombern und gib eine Rupie, wenn dich in der Welt, überall außerhalb unseres fetten Wohlstands, einer anbettelt: Ein Gutmensch ist nicht wohlständig – denn er könnte zur Charaktermaske werden, was ja keiner riskieren möchte. Recht besehen sind das zwar Skizzen aus dem psychischen Horrorkabinett christlicher Fundamentalisten pietistischer Prägung, aber die Grünen haben es mit ihnen geschafft, unsere Welt etwas zu entschleunigen.

Der Gutmensch, das wurde allerdings auch hörbar in den jüngsten Jahren, war auf hoffnungslosem Posten. Er machte sich Illusionen über die Welt, so zieh man ihn, er ist kein Realist, er träumt, er sehnt und zaudert. Auf Schulhöfen wurde die Vokabel zum Killerargument: „Gutmensch“, hieß es nicht gegen das pädagogische Aufsichtspersonal, das weder mit den Methoden des zivilen Ungehorsams, per Sitzblockade womöglich, noch mit gutem Zureden über die Runden kam. Man hatte nur Verachtung für sie übrig, zeigte sich unempfänglich für deren Zartheit – und erfand ein neues Wort, schlimmer, böser noch als „Gutmensch“: Das lautet „Opfer“, wahlweise „Du Opfer!“, ja, tückischer noch, „Bist wohl Opfer?“

Nein, das will niemand sein: Täter zu sein ist mies genug, aber Opfer zu sein, sich gar auf diesen Status festlegen zu lassen, ist das Allerletzte. Das gilt natürlich und erst recht für Jungs, die sich, freundliche Folge all des Gutmenschenmühens, in Mädchen einfühlen – und prompt als Frauenversteher gelten – oder Stilles-Wasser-Trinker, ja Stilles-Wasser-auf-Zimmertemperatur-Trinker. Das fantasiert ein Leben ohne Sprudel, ohne Pep, ohne Passion und Grenzübertretung. Ein Leben im Holzauto – wo doch der Zeitgeist seit den frühen Neunzigern, you can call it new economy, stupid!, als Formel-1-Rennen spintisiert wird. Und Tempo hat ja auch seinen Charme – schon das Wort klingt nach Gier und Unrast: Alles und noch viel mehr jetzt!

Der Ton zwischen beiden Gemütsverfassungen ist rauer geworden, ja gelegentlich unversöhnlich. Zumal es Häretiker gibt, vor allem auf Seiten der Gutmenschen. Männer, die plötzlich doch kein Sparauto mehr wollen, sondern von Hamburg nach Berlin in anderthalb Stunden mit der Sportkarre; Frauen, die auf Gebatiktes nicht mehr halten, sondern auf Modisches bester Qualität. Hübsch sein, die Oberfläche polieren, den Schein wahren, nicht nur das Sein: VerräterInnen werden sie genannt, wenn überhaupt, aber doch meist als solche empfunden. Abtrünnige, Lifestyle-Neoliberale.

Schlimmer noch: Die eigenen Kinder mögen den säuselnden Ton der Eltern nicht. Nicht dieses „Du, da müssen wir drüber reden“. Die lieber ein „Das ist jetzt so und so …“ hätten. Eine Entschlossenheit, die Gutmenschen ja nur passiv als Aggression austragen. Die Kinder reden plötzlich von Verantwortung. Davon, dass Afrika keinen Schuldenerlass braucht, sondern die Entmachtung von Despoten; dass Frauen nicht als solche gut sind, sondern auch böse; dass nicht alle Welt nach Deutschland kommen kann, weil Deutschland, Gott sei Dank, nicht mehr alle Welt ist. Gutmenschen, die sich die Welt als Kontext von Missverständnissen vorstellen und diese per NGO-Beratung heilen wollen, sind fassungslos: Sie wissen, dass die Welt, wie sie sich dachten, nicht die Sache ist, von der zu sprechen wäre. Aber das kostet Kraft, das verursacht Schmerzen. Zur Sache sprechen, nicht, religiös, from a distance, von der Welt im Allgemeinen, von Globalisierung. Gutmenschen besahen sich die Welt und sagten: „Wir befürchten das Schlimmste.“ Langsam trauen sie sich zu sagen: „Die Welt ist klasse. Den Rest versuchen wir zu klären.“

Der Gutmensch wird wohl am 18. September abgewählt. Er wird es trotzdem überleben, denn das Leben geht ja immer weiter, irgendwie.

Kurt Scheel, apropos, erklärt, sein Beharren auf die Weltformulierungspremiere von „Gutmensch“ ändere nichts an seinem Bedauern, dass dieses Wort von ziemlich vielen Arschlöchern für ganz eigene, seinerseits unbeabsichtigte Zwecke benutzt wird. Zwei plus zwei sind eben vier – egal ob Gutmenschen es zu rechnen verstehen oder jene, die einem noch mehr auf die Nerven gehen als sie.