Epidemien plagen Großmacht Indien

Trotz rasantem Wirtschaftswachstum und technologischer Entwicklung herrscht auf dem Land eine chronische medizinische Unterversorgung. Impfstoffe fehlen. Immer mehr Ärzte wandern aus staatlichen Hospitälern in lukrative Privatkliniken ab

VON BERNHARD IMHASLY

Ein später, aber umso heftigerer Monsun hat weite Teile im östlichen Uttar Pradesh und angrenzenden Bihar unter Wasser gesetzt. Die stehenden Gewässer sind ideale Brutplätze für Moskitos, darunter solchen mit dem Erreger der „Encephalitis Japanensis“, die besonders Kindern verhängnisvoll werden können. Die Folgen sind abzusehen: In den letzten drei Wochen sind in einem halben Dutzend Bezirken über 500 Menschen, die meisten von ihnen Kinder und Frauen, an Hirnhautentzündung gestorben.

Das Kreisspital von Gorakhpur ist das Einzige, das mit den nötigen Geräten ausgerüstet ist. Dessen Kinderabteilung ist so überfüllt, dass Patienten inzwischen zu zweit und zu dritt auf einem Bett liegen. Wer immer noch keinen Platz findet, liegt in Gängen, Treppenhäusern und sogar auf Plastikplanen im Freien. Es fehlt an Medikamenten, die Sauerstoffgeräte brechen wegen Überlastung immer wieder zusammen, und die Ärzte, die dank des medialen Scheinwerferlichts plötzlich wieder ihren Dienst tun können, sind überfordert. Es ist eines der vielen angekündigten Disaster, die in Indien immer noch zum Alltag gehören, und die die Fassade einer wirtschaftlichen und politischen Großmacht heftig ins Wanken bringen.

Die Gegend in Ostindien ist bekannt für das endemische Auftreten dieses Erregers; in den letzten zehn Jahren wurden allein in Gorakhpur mehr als 10.000 Patienten eingeliefert, 2.331 von ihnen starben an der Krankheit. Dennoch waren die Gesundheitsdienste auch dieses Jahr nicht auf den Ausbruch der Epidemie vorbereitet. Obwohl die Krankheit auch in anderen Regionen immer wieder ausbricht, wird der Impfstoff von einem einzigen Labor im Land produziert. Dieses kann den Bedarf bei weitem nicht decken. Die Hirnrinden von Mäusen, aus denen der Wirkstoff extrahiert wird, muss großenteils importiert werden, obwohl Indien wahrhaftig keinen Mangel an Nagern hat. Die Impfkampagnen dringen zudem selten in Dörfer vor, weil sie nur zu Fuß erreicht werden können. Und erst in den letzten Tagen sind Teams der Gesundheitsdirektion von der Hauptstadt Lucknow ausgeschwärmt, um die Brutstätten mit Insektiziden zu besprühen. Ein Forschungsinstitut für diese Krankheiten in Gorakhpur ist seit langem beschlossen, besteht aber weiterhin auf dem Papier. Die Grenzregion zwischen Uttar Pradesh und Bihar gehört zu den ärmsten des Landes, wo die schlechte Gesundheitsversorgung von Mutter und Kind einhergeht mit chronischer Unterernährung. Die Sterblichkeitsrate von Kindern im Alter bis zu fünf Jahren liegt für das ganze Land bei rund 80 pro 1.000 – die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie in diesen Gegenden das Doppelte beträgt. Dasselbe gilt für die Mangelernährung, die für die gleiche Alterskategorie landesweit bei 47 Prozent liegt. Aber auch die vergleichsweise verwöhnten Großstädte Delhi und Bombay werden von Epidemien nicht verschont. In Delhi ist es auch dieses Jahr wieder zu Dengue-Erkrankungen gekommen, denen in den letzten zehn Tagen landesweit 15 Menschen erlagen. Und in Bombay starben nach den verheerenden Überschwemmungen von Ende Juli knapp 250 Personen an verschiedenen Infektionskrankheiten. Alles ein Indiz für die außerordentlich dünne Gesundheitsinfrastruktur Indiens. Diese hat sich in den letzten zehn Jahren zudem noch stärker zu Ungunsten der Armen verschoben. Immer mehr Ärzte wandern vom Staatsdienst in den Privatsektor ab. Dieser deckt inzwischen zwei Drittel des Gesundheitssektors ab, bleibt für eine Mehrheit der Bevölkerung aber unerschwinglich.