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„Wenn es eine konservative Revolution gibt, dann bei uns“

Was wird in dieser hochnervösen Lage aus Europa, den deutschen Parteien und den Grünen? Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann über grüne Antworten auf konservative Probleme

Von Benno Stieber, Peter Unfried (Interview) und Verena Müller (Foto)

taz am wochenende: Herr Ministerpräsident, die SPD im selbstzerstörerischen Sinkflug, die Union politisch orientierungslos, die FDP nicht regierungsbereit, die Grünen bundespolitisch irrelevant. Sehen Sie in Deutschland die Auflösung des alten Parteiensystems, wie zuvor in Frankreich und Italien?

Winfried Kretschmann: Ich bin Ministerpräsident und kein Prophet. Wir haben seit 70 Jahren ein sehr stabiles Parteiensystem. 70 Jahre, sieben Bundeskanzler, das ist schon ein Anker, wenn man denkt, wie in Italien das traditionelle System weggebrochen ist, als Berlusconi kam und die Sozialisten geschrottet wurden.

Warum steigern wir uns jetzt kollektiv in diese Nervosität?

Weil wir das nicht kennen, was gerade vor sich geht. Merkel ist ein Stabilitätsanker, und viele fragen sich, was passiert, falls der auch noch rausgerissen wird. Aktuell in der europäischen Situation, in der Macron uns durch seine mutigen Ansagen beruhigt hat. Er braucht jetzt Verbündete, sonst verhungert er irgendwann. Wenn er keinen Partner hat, dann kann Europa wirklich scheitern.

Sehen Sie das so hart wie Jürgen Habermas, der im Sinne Macrons und des Südens die Notwendigkeit der Überwindung deutschen Wirtschaftsnationalismus sieht?

Dem kann ich nichts abgewinnen. Man muss die Austeritätspolitik nicht hochjubeln, aber dennoch halte ich das für eine überspannte These. Wenn die Sozialdemokraten in einer Koalition das Finanzministerium bekommen, dann wird die Schäuble-Politik ja wohl ein bisschen abmoderiert werden, was ich auch in Ordnung finde.

Weil jetzt auch im Land alles auseinanderrennt, stehen die Bundesgrünen nach dem Scheitern der Jamaika-­Sondierungen ohne Perspektive da.

Das ist ein ganz konkretes Problem, weil wir jetzt noch mal in der Opposition hocken. Aber das lag ja auch an uns.

Nicht an FDP-Chef Lindner?

Auch, aber die Geschichte wäre anders verlaufen, wenn wir 2013 Schwarz-Grün gemacht hätten. Merkel wollte diese Koalition, das war klar, aber wir sind damals nicht gesprungen. Das ist unter anderem an der Vermögensteuer gescheitert, und – Ironie der Geschichte ­– dieses­ Thema haben wir in den Jamai­ka-Verhandlungen nicht mal mehr vorgetragen.

Wer zu spät kommt … und so weiter?

Ja. Wenn man historische Chancen nicht wahrnimmt, wird man abgestraft. Die Entwicklung in Österreich, wo jetzt die Konservativen mit der FPÖ regieren, hat einige bei uns offenbar zum Umdenken gebracht. Dass zum Beispiel Jürgen Trittin das jetzt öffentlich sagt, ist höchst respektabel, aber es hat nicht mehr gereicht. Diesmal lag es nicht an uns. Diesmal hat es Lindner zum Scheitern gebracht. Das wird ihn irgendwann auch noch mal schmerzen.

Ist Lindners Projekt die Zeit nach Merkel?

Ich bezweifle, dass da eine große Strategie dahintersteckt. Er wollte ganz banal als frisch aufgestiegener Phönix nicht schon wieder Kompromisse machen. Es verdient ja auch Res­pekt, wie er seinen Laden aus dem Nichts über zehn Prozent gebracht hat. So viele Stimmen haben wir nicht geschafft mit unserem Kernthema Klimawandel. Aber in einer Viererkoalition bist du halt kein Phönix mehr, sondern nur eins der Hühner, das mitgackert. Seine Haltung war: Partei first, Land second. Rückgrat beweist aber derjenige, der Kompromisse macht. Kompromisse musst du vor den eigenen Leuten auf dem Parteitag rechtfertigen. Zu sagen, wir haben es nicht gemacht, weil es nicht die reine liberale Lehre war, dafür braucht man kein Rückgrat.

Mit Verlaub, das hat er doch von den Grünen gelernt.

Mag sein, aber man muss halt das Richtige von anderen lernen und nicht das Falsche.

Gelingt der SPD offenbar auch nicht. In Ihrer Aachener Karnevalsrede haben Sie gesagt, es wäre Ihnen als Grüner nicht im Traum eingefallen, vor einem Koalitionsvertrag die Basis zu befragen.

Das darf man auch nur im Karneval so sagen. Aber wahr ist schon: Auch Demokratie braucht Führung. Immer wieder radikale Ansagen zu machen wie Martin Schulz, sie dann durch sein eigenes Handeln zu widerrufen und am Ende die Basis zu fragen? Das ist doch alles zu beliebig. Jetzt fragt eine ­chaotische SPD-Führung, in der jeder beschädigt ist, die Basis. So etwas kommt nur zustande, wenn man Führung verweigert.

Wie erklären Sie diese Verunsicherung in der Politik?

Die modernen offenen Gesellschaften pluralisieren sich. Heute haben wir, zum Beispiel, in den Gemeinderäten der großen Städte, wo die Fünfprozenthürde abgeschafft ist, eine große Zersplitterung. Das sind Folgen der Individualisierungstendenzen. Warum sollen 80 Millionen verschiedene Meinungen sich in nur vier oder fünf Parteien wiederfinden? Wir sehen auch, dass der Wunsch nach direkter Demokratie zunimmt. Da ist eben mächtig was in Bewegung.

Warum werden gerade jetzt die Identitätsfragen von Ich und Gesellschaft schicksalshaft hochgejazzt? Dabei gibt es mit den gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung und dem Klimawandel wirklich drängendere Themen.

Ich glaube, es geht schon um wichtige Fragen, wie die des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Aber was wollen wir eigentlich zusammenhalten? Das ist in einer immer pluraleren Gesellschaft nicht mehr so einfach zu beantworten. Und die Migration ist ein Katalysator für solche Unsicherheiten, die ja vorher schon da waren. Vieles davon ist allerdings nur gefühlt.

Was hält die diverse Gesellschaft zusammen?

Als Politiker habe ich da eine einfache Antwort. Die verfassungsmäßige Ordnung. Aber der Verfassungsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht herstellen kann, zivilisierter Umgang miteinander, zum Beispiel. Und gerade diese Regeln, die nicht die Politik festlegt, sind derzeit Gegenstand der heftigen Debatte. Menschen glauben plötzlich, sie hätten nicht nur das Recht auf eine eigene Meinung, sondern auch auf eigene Fakten. Das sind Dinge, die aus dem Ruder laufen, mit der Spitze des Eisbergs namens Donald Trump. Da ist einer Präsident der bedeutendsten Weltmacht, der sich benimmt, wie wir es unseren Kindern in der Erziehung beizubringen versuchen, dass man sich so nicht aufführt.

Heißt das, Politik soll sich auf die Verfassung konzentrieren, der Rest muss sich selbst regeln?

Ja, als Politiker muss man erkennen, dass man nicht für alles zuständig ist und soll sich daher auf die Verfassung konzentrieren. Aber die Gesellschaft muss weit darüber hinausgehen.

Die einst rebellischen Grünen geben sich derweil als Kraft der Stabilität. Ihr neuer Bundesparteivorsitzender Robert Habeck beschreibt die Grünen als Partei für die ganze Gesellschaft. Das Kretschmann-Modell?

Nein, das ist der Gründungsmythos der Grünen. Weder links noch rechts, sondern vorne. Wir sind nicht für Kapitalismus oder Kommunismus, sondern suchen neue Wege. Natur als Politik – das gab es nie zuvor in der Geschichte.

Aber in voller Konfrontation zur bestehenden Gesellschaft.

Das ist damals sehr schnell reingeflutet, im Prinzip schon auf dem Gründungsparteitag. Aber der echte Beginn war nicht konfrontativ. Das weiß ich noch als Gründungsmitglied. Es geht um die Lebensgrundlagen. Das ist unsere Legitimation und hält den Laden zusammen. Bei den Jamaika-Sondierungen waren Jürgen Trittin und ich die Pole. Er der Preistreiber, ich der Preisdrücker, und das ergab eine schöne Balance. Es gab heftige Diskussionen, aber wir haben uns nicht zerstritten.

Das 14er-Sondierungsteam sahen manche Beteiligte als fehlendes strategisches Zentrum. Versuche, es zu institutiona­lisieren, sind gescheitert. Wo ist künftig das strategische ­Zentrum, das man vermisst hat?

Das Zentrum sind die Bundesparteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck.

Die Frage ist doch, ob die grüne Welt bipolar gestört bleibt – hier Berlin, dort Stuttgart – oder in Zukunft miteinander gedacht wird?

Winfried Kretschmann

geboren am 17. Mai 1948, ist grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Er regiert seit 2011, zunächst mit der SPD, seit 2016 mit der CDU als Junior, die von den Grünen mit 30,3 Prozent als führende Volkspartei abgelöst wurde. Das taz-Gespräch fand in der Bibliothek der Villa Reitzenstein in Stuttgart statt, dem Amtssitz des Ministerpräsidenten.

Nach meinem Eindruck hat Jürgen Trittin den Zwist begraben mit seiner Ansage: „Reine Parteilehre gut, Regieren schlecht, diese Aufstellung ist falsch.“ Es war wichtig, dass er das gesagt hat und nicht jemand anderes, so hat es die einigende Wirkung erzielt.

Die Stimmung ist aber besser als die Lage. Sie sind mit gerade mal 8,9 Prozent die kleinste Fraktion im Bundestag …

… dass wir das immerhin erreicht haben, haben wir am Ende Cem Özdemir zu verdanken und sonst niemandem. Aber mit der Sondierung und dem Ausrufezeichen vom Parteitag kann man davon ausgehen, dass wir uns ab jetzt anders aufstellen. Baerbock und Habeck können jetzt eine echte Unterstützung in beiden Flügeln der Partei finden.

Die Baden-Württemberger Cem Özdemir und auch Kerstin Andreae haben wichtige Posten in Partei und Fraktion aufgegeben. Sinkt der Einfluss von Baden-Württemberg?

Wir sind ein starkes Bundesland und stellen den einzigen grünen Ministerpräsidenten Deutschlands, der sich eines gewissen Ansehens erfreuen darf.

Ist uns bekannt. Aber der Einfluss des beliebtesten Ministerpräsidenten auf seine Bundespartei war vorher schon überschaubar. Ihre grüne Südwest-Volkspartei wurde als Role Model vehement abgelehnt.

Die Sondierungen haben doch allen gezeigt: Kompromisse führen nicht zum Vertrauensverlust sondern zu Zuspruch. Radikale Sprüche am Fließband zu produzieren bringt dagegen nichts.

AfD, die Verweigerung der FDP – und jetzt die Jusos. Wir erleben Eskalationsversuche von unterschiedlichen Seiten. Warum sollten ausgerechnet Grüne mit dem Gegenteil Erfolg haben?

Ich hab’s ja jedenfalls mal gezeigt, dass man das kann.

Lassen Sie sich denn auch unter Habecks Versuch einordnen, „Linksliberalität“ in der Realität von 2018 neu zu vermessen?

Nein, linksliberal würde ich mich nicht einordnen lassen. Das ist mir zu eng. Ich bin auch linksliberal, aber nicht nur. Ich habe schon auch konservative Seiten.

Der CSU-Kollege Dobrindt hat die „konservative Revolution“ ausgerufen. Hat die echte konservative Revolution nicht längst stattgefunden und zwar in Baden-Württemberg?

Ja, wenn es eine gibt, dann hat sie hier stattgefunden. Was ist denn an Dobrindt konservativ? Wirtschaftsliberal soll konservativ sein, Frontalunterricht soll konservativ sein: Warum denn das? Alles willkürlich und wenig durchdacht. Immer wieder kommen solche Papiere von irgendwelchen Möchtegern-Konservativen in der Union. Und fast immer ist es Politkitsch. Ich hab das jedes Mal mit großer Verwunderung gelesen und mir gedacht: Ihr solltet einfach mal mich ein paar Punkte notieren lassen, dann würdet ihr euch nicht so blamieren.

Konservativer als die, die sich konservativ nennen. Regieren Sie jetzt schon zu lange mit der Union?

Ich hab grade einen Konflikt mit denen …

… die CDU will sich nicht an den Koalitionsvertrag halten, in dem ein neues Wahlrecht vereinbart ist, das mehr Frauen in den Landtag bringen soll …

Ja, Vertragstreue ist ein konservativer Wert. Die hiesige CDU ist beunruhigt, dass jetzt die Grünen die drei Werte Verlässlichkeit, Vertrauen und Vertragstreue besetzen.

Das ist Ihr neuer Werbeslogan.

Nein, das sind konservative Werte, die wir bewahren müssen. Verlässliche Prinzipien des menschlichen und politischen Umgangs. Kant hat die Dinge ja auf den Punkt gebracht: Selber denken, den anderen denken und mit sich in Übereinstimmung bringen. Das nennt er die Maximen des gemeinen Menschenverstandes. Frieden und Erhalt der Natur, das sind zum Beispiel auch konservative politische Werte, die wir Grünen vertreten.

Menschen haben konservative Bedürfnisse, suchen Sicherheit, aber gerade die Verunsicherten wählen so, dass alles immer unsicherer wird. Vernunft hilft nicht. Was kann man dagegensetzen?

Schon diese Werte, die ich genannt habe. Als wir an die Regierung kamen, habe ich die Politik des Gehörtwerdens als Antwort gegeben. Diese Bürgerbeteiligung empfinden wir als Modernisierung der Politik, in Wirklichkeit geht es aber um die Bewahrung des Gemeinsamen. Zivilisierter Streit hält die Gesellschaft zusammen, unzivilisierter treibt sie auseinander.

Einer Ihrer Leitsprüche.

Ja. Wie streiten wir, ohne uns am Ende zu zerstreiten oder gar zu bekriegen? Große Geister haben uns ­etwas hinterlassen, was durch die Zeiten Bestand hat und haben muss, wir müssen es nur zeitgenössisch machen, also in unsere Zeit übersetzen. Manche Werte sind verletzt worden, sind ideologisiert worden, manche waren auch verlogen, ich will das nicht heroisieren und auch kein großes Pathos entwickeln.

Sie misstrauen dem Pathos?

Ja, denen, die sich konservativ nennen, geht es um Pathos, wenn die Familie aus Vater, Mutter, Kind bestehen soll, so wie früher. Dagegen kommen dann die grünen Patchworker, die das alles aufgelöst haben wollten und halten beim Flüchtlingsnachzug plötzlich das traditionelle Familienbild hoch, Vater, Mutter und zwei Kinder. Das ist doch originell, paradox und dialektisch.

Die Ehe für alle ist auch eine Lösung für ein konservatives Bezugsproblem. Es geht um Sicherheit, Akzeptanz, Eingebundenheit.

Richtig, es ist interessant, dass Homosexuelle sich nicht etwas anderes ausdenken, sondern auf ein Modell rekurrieren, das heterosexuellen Ursprung hat.

Die Liberalisierung der CDU könnte aber mit der Ehe für alle an ihr vorläufiges Ende gekommen sein. Jetzt ziehen die Kräfte in die andere Richtung.

Woher kommen immer nur die ganzen Propheten? Aber richtig ist: Der Markenkern der SPD ist zwar schwach, aber eindeutig. Aber was ist der Markenkern der CDU? Der ist viel flüssiger und volatiler. Die CDU ist auch eine sehr progressive Partei.

Inwiefern?

Sie bezieht ihre Modernität aus der Wirtschaft. Das genügt der CDU, etwas vereinfacht gesagt. Der Fortschritt findet unentwegt statt, er kommt aus dem Feld der Technologie und der Ökonomie, wir rennen ja alle gerade den digitalen Start-ups hinterher und kommen mit den ganzen Innovationen aus der Wirtschaft nicht mehr hinterher. Deshalb muss die Politik neue Formate finden, sonst ist sie nicht mehr in der Lage, die Geschwindigkeit dieses Wandels auch nur gesetzesmäßig aufzuarbeiten. Das wird jetzt meinen Koalitionspartner nicht sehr freuen, aber aus sich heraus ­erlebe ich die Union als nicht sehr kreativ, sie haben auch sturzlangweilige Parteitage. Unsere Führungsstreits haben immer etwas Ideologisches, bei denen geht es immer einfach um Personen, siehe Söder gegen Seehofer.

Apropos Horst Seehofer. Vermissen Sie den scheidenden bayerischen ­Ministerpräsidenten im Bundesrat schon?

Er wird uns fehlen. ­Seehofer ist ja einer, mit dem man ­verhandeln kann. Er ist zwar nicht immer ganz beständig, aber er hatte eine große ­Bedeutung für uns in der ­Ministerpräsidentenkonferenz, weil er auch ein Chef in der Koalition war. Bei Bund-Länder-Verhandlungen hieß es oft: Horst, das muss du jetzt ­machen.

Sie haben vor ein paar Wochen angekündigt, sich 2021 ein drittes Mal zur Wahl zu stellen. Welche Strategie steckt dahinter, das zum jetzigen Zeitpunkt zu verkünden?

Ich wollte die Debatte vom Hals haben, denn es ist eine reine Journalistendebatte. Ich werde damit gequält, seit ich frisch gewählt war. In meiner Partei habe ich keine Nachfolgedebatte, ich habe das Gegenteil. Ich höre immer: Du musst es noch mal machen.

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