ZEIT.ORTE

Bewegungen unter dem Dach der Zeit

Holger Tegtmeyer, geboren 1964, lebt als freier Autor in Neukölln. Buchveröffentlichungen: „Es könnte Steine regnen oder Bomben“ (1999) und „Literarische Streifzüge: Berlin“ (2008). Sein Blog heißt „Texte und Tage“: holgertegtmeyer.wordpress.com.

Holger Tegtmeyer

Kleckert

Wir stehen dicht an dicht, das U-Bahn-Fernsehen zeigt die Wetteraussichten. Ich trage meinen selbst gebrühten Kaffee und nehme einen Schluck. Der Herr mit Hut sagt: „Kleckert.“ Nur dieses eine Wort. Ich schaue ihn an. Er deutet mit der Hand auf den Boden. Ich sehe ein paar braune Tropfen auf dem grauen Belag, auch meine Hand ist etwas feucht geworden. Ich verschließe den Deckel noch einmal gründlich und bedanke mich. Er nickt ohne Gesichtsausdruck und sitzt dort unter mir auf der Dreierbank wie einer, der alles weiß und dem nichts entgeht. Wahrscheinlich durchschaut er mich, hat solche Typen oft erlebt: kommen in den Waggon, kleckern alles voll mit ihren undichten Thermosbechern, merken es nicht. Er trägt die Farben eines Rentners, Beige, Braun und Grau. Er ist ein Profi, er ist so alt wie die Welt.

Die Flamme

Nacht nun und Ruhe. Die Menschen aller Generatio­nen schlafen unter dem Dach der Zeit. Sie wälzen sich, stammeln unverständliches Zeug. Spucke läuft aus den Mundwinkeln, Muskeln zucken, Beine schlagen. Sie träumen. Jeder gibt sein Bestes. Leben ist leicht und schwer. Wohin und wozu? Fragen, auf die das eigene Leben Antwort geben soll. Wir plagen uns, wir täuschen uns, wir machen einfach weiter und legen Jahresringe an wie die Bäume. Eines Tages stehen wir alt und allein und werden bestaunt. So ist das. Zwischendrin jede Menge Wirbel, Aufruhr, Sensation. Als zöge der Zirkus durch. Danach ist die Stille noch einmal so still. Es geht weiter – das beruhigt die Alten so sehr. Wegen des Lebens, nur deshalb. Als müsse das noch irgendwohin.

Leonie läuft

In der Familie, die sich am Pfandautomaten versammelt hat, sind sie alle dick. Opa steckt die Plastikflaschen falsch herum in den Eingabeschacht, Tochter erklärt ihm das, Opa macht weiter wie bisher. Das geht nicht, sagt er. Sage ich doch, sagt sie. Andersrum rein?, fragt er. Hab ich doch gesagt, sagt sie. Enkelin klettert ins Loch für die Flaschenkästen. Komm raus da, Leonie, sagt die Mutter, sonst biste weg. Leonie freut sich und biegt die schmutzigen Kunststoffstreifen auseinander, die wie ein Vorhang vor der Kastenöffnung hängen. Pfui, das is bäbä, ruft die Schwester der Mutter, Leonies Tante. Oma hat sich einen Stuhl vom asia­tischen Suppenimbiß genommen und ihren schweren Leib daraufgewuchtet. Nun telefoniert sie: Morgen um halb acht kommen die Mannschaften, um halb acht kommen die, morgen früh. Nee, Opa tut gerade Flaschen wegbringen, gleich is er fertig. Plötzlich ist Leonie weg. Sie kann schon laufen, deshalb läuft sie und ist weg. Leonie!, ruft die Tante. Leonie!, ruft die Mutter. Leonie hat sich hinter der Rolltreppe versteckt. Die Tante eilt ihr nach. Da betritt Leonie die Rolltreppe, die zum Glück nicht anrollt. Morgen um halb acht, haben sie gesagt, sagt Oma zu ihrem Mann, da kommen die Mannschaften, morgen früh. Opa ist fertig mit den vielen Plastikflaschen für Cola und Eistee. Jetzt können wir einen draufmachen, sagt er. Opa, in deinem Alter nich mehr , sagt seine Frau. Wir machen gemütlich, sagt er. Die Tante kommt mit Leonie im Schlepptau, beide lachen. Leonie ist begeistert, kaum wird sie wieder losgelassen, rast sie in den Supermarkt und verschwindet in der Gemüseabteilung. Ein Satansbraten ist das, diese Leonie, sagt die Mutter zu ihrer Schwester und macht sich auf die Suche, während Opa zur Kasse geht und das Pfandgeld holt. Bis auf Leonie wiegt niemand unter hundert Kilo in dieser glücklichen Familie. Sie lachen viel und freuen sich, dass sie es so gut haben. Sie sind allein auf der Welt. Auch Leonie weiß das und nutzt alle Räume. Jemand hat ihr einen Vokuhila geschnitten, der steht ihr nicht schlecht. Eine Weile noch lagern sie an diesem Rastplatz, dann setzt sich der Trupp langsam in Bewegung. Sie haben es nicht eilig, morgen ist Ostern, und Leonie bekommt Schokoladeneier.

Nach dem Regen

Ich erwachte, und es regnete. Da blieb ich liegen und lauschte. Je länger ich das tat, desto mehr war mir, als würde ich gewaschen. Ich mag Regen, sagte kürzlich jemand, der mir sofort noch sympathischer war. Jetzt scheint die Sonne und trifft mein Gesicht. Wolken haben sich versammelt, der Himmel ist heiter bewölkt. Ich aber denke zurück an ergiebigen Regen. Die Erde trinkt, sagte ich als Kind oder dachte es. Arbeiter sitzen im Bauwagen, trinken Heißes aus der Thermoskanne, rauchen eine Zigarette, lesen die Bild oder mampfen ihre Stullen. Sie müssen warten, bis es aufhört zu regnen. Der Wanderer im Wetterhäuschen muss warten. Er bereitet sich einen Kaffee auf seinem kleinen Gaskocher. Von den Bäumen tropft es, von der Teerpappe der Schutzhütte tropft es. Am Boden bilden sich kleine Seen, Rinnsale, Flüsse. Sie befördern Staubteile, Blätter, Stücke von Zweigen. Auch die Leiche eines Käfers, der gestern noch lebte, tragen sie hin. Der Wanderer sieht das und denkt sich seinen Teil. Das ist das, was ein jeder tut, wenn es draußen regnet.

Die Frau die schreibt

Erschöpft von der Arbeit des Tages, Heimfahrt, es wird Nacht. Die Lichter blenden, die Autos sind laut. Aus den Mündern der Menschen in der Bahn kommen keine Sätze mehr. Sie sind umsponnen von Eigenem. Ich stehe an der Haltestange und erblicke die Frau, die schreibt. Sie ist vertieft in die Gedanken, die sie mit einem Kugelschreiber in ein Heftchen schreibt, das sie auf ihr Knie gelegt hat. Das Knie befindet sich in Brusthöhe, denn sie ist auf dem Sitz etwas nach vorn gerutscht und hat ihren linken Fuß auf den Blendschutz des Heizungskanals gestellt. Manchmal schaut sie kurz auf, als sei eines der richtigen Wörter zwischen den Mitreisenden zu finden, als schwebten unsichtbare Seepferdchen durch den rollenden Raum. Es ist ein Blick, der auf anderes achtet – nicht auf Details oder Umrisse, Personen oder Bilder. Andere schreiben ebenfalls: sie tippen mit spitzen Fingern auf die Flächen ihrer Geräte. Das hat bei manchen etwas, als ekelten oder fürchteten sie sich, zeigten auf etwas oder berührten eigens nur kurz. Die Frau die schreibt schreibt mit ruhig kreisender, auf und ab geführter Hand von links nach rechts. Ihre Schreibbewegung kommt aus dem Körper, läuft über den Arm in die Hand, in die drei Finger, die den Stift halten. Eine Tanzbewegung entsteht, eine Choreografie ihrer Persönlichkeit in der Luft und auf Papier. Die Frau die schreibt macht die Fahrt schön, auch wenn sie das nicht weiß. Während sie schreibt, leuchten ihre Augen.

Aber die Krähen 1

Unter den Bäumen wandeln die Krähen wie gehässige alte Philosophen, betrachten versonnen die Welt und nicken. In ihren grau-schwarzen Talaren könnten sie auch Geistliche eines Ordens sein. Wenn einer der Ordensbrüder blinzelt, erkennt der Fremde, dass ihnen das Verworfene nicht unbekannt sein kann. Etwas Lauerndes und Sprungbereites ist ihnen eigen: als könnten sie jemandes Schwäche oder Tod kaum mehr erwarten. Niemand darf sich ihnen nähern, das lassen sie nicht zu. Als wäre ihr Wissen ansteckend oder gefährlich. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, heißt es, von denen kein Sterblicher wissen darf.

Zu mir selbst

Beim Kochen meines Frühstückseis ein paar Sätze zu mir selbst: Vermeide dich nicht. Sei, wie du bist, es gibt dich kein zweites Mal in einer anderen Version. Mache es niemandem recht, versuche es gar nicht erst. Es ist uninteressant, was andere über dich denken, idio­tisch, es beeinflussen zu wollen. Was die Leute denken, handelt von den Leuten, am wenigsten noch von dir. Folge deinem Stern. Wenn du ihn nicht siehst, gehe einfach spazieren. Treib dich dort herum, wo es dir gefällt. Besorg dir ein paar interessante Gedanken, mit denen kannst du spielen. Schlafe weiterhin so tief und ergiebig. Du wirst neu geboren, auch wenn es dich längst schon gibt.

Aber die Krähen 2

Zugleich wurde deutlich, daß sie zuverlässig ihren Dienst versahen: ein Trupp von Abdeckern, ein Haufen von Bestattern, den man schnell und preisgünstig ausstaffiert hat, damit er nicht unehrenhaft erscheint angesichts des Todes und seiner angeblichen Würde. Jeder von ihnen oder jede von ihnen (sie erschienen geschlechtlos) wirkte trotz oder wegen der aufgesetzten Vornehmheit verschlagen. Vermutlich ging es darum, schnell noch dem Toten das Gold aus dem Maul zu reißen oder eine Armbanduhr zu ergattern. Sie durchstreiften das Feld mit der Aufmerksamkeit eines Suchtrupps. Neid und Mißgunst hielten sie dicht beieinander. Jede oder jeder wollte dabei sein, wenn sich ein Fund ergab: ein Stück von dem, was leben läßt. Die Erde zu reinigen, so lautete der Auftrag. Man war eifrig und pflichtbewußt und hätte sich nicht zu schämen, nicht des Gestanks, kaum der Gier. So schritten sie einher und ähnelten ein wenig den 1-Euro-Jobbern vor Jahren, als dieses reiche Land sich rüstete, die Zukunft zu meistern, und jene, die arbeitslos waren, in die Parks kommandierte, um dort den Unrat zu entfernen. An die erbarmungslose Professionalität der Krähen reichten die damaligen Abordnungen nicht heran. Der Ehrgeiz fehlte.